Als es Klein-Polenim Emsland gab

Eine Ausstellung in der Gedenkstätte Bergen-Belsen zeigt Kunst, Kultur und Alltag polnischer Displaced Persons im Nachkriegsdeutschland

Improvisiert gegen die Schrecken der Vergangenheit: Polen im DP-Lager Haltern/Westfalen, 1947 Foto: Rektorat der Polnischen Katholischen Mission in Deutschland, Hannover

Von Joachim Göres

„Wir können nicht Polnisch sprechen, wir können in keinerlei Kategorien irgendeiner Staatsräson denken, wir können nicht einmal nach den primitivsten Grundprinzipien des kollektiven Lebens leben.“ Das schrieb Tadeusz Borowski, der im Band „Bei uns in Auschwitz“ seine KZ-Erlebnisse schilderte, kurz nach Kriegsende im DP-Camp München. Er war einer von acht Millionen sogenannter Displaced Persons, die als Verschleppte in Deutschland den Krieg überlebt hatten – traumatisiert, hoffnungs- und perspektivlos.

Mehr als eine Million von ihnen kam aus Polen, als Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter oder Zivilarbeiter. Viele hatten alle Angehörige verloren, kaum einer wollte hier bleiben. Dennoch mussten sie vielfach über Jahre hinweg in DP-Lagern leben, weil die Ausreise kompliziert war. Die Kultur gehörte zu den raren Hoffnungsschimmern für viele Menschen im Wartestand – davon handelt die gerade in der Gedenkstätte Bergen-Belsen eröffnete Ausstellung „Zwischen Ungewissheit und Zuversicht. Kunst, Kultur und Alltag polnischer Displaced Persons in Deutschland 1945–1955“.

In fast allen Lagern gründeten sich Amateurtheatergruppen; Musiker, Chöre und Tanzgruppen gestalteten gesellige Abende, Lagerzeitungen lieferten Informationen aus der Heimat. Dabei ging es vor allem darum, sich der lange bedrohten, meist als national verstandenen Identität zu versichern und die eigene Sprache und Kultur zu pflegen. Polnische Klassiker wurden auf die Bühne gebracht, traditionelle Handwerkskunst gepflegt, Trachten hergestellt. Neben Beispielen solcher Volkskunst werden in der Ausstellung Werke von Künstlern vorgestellt, die die Kriegszeit gezwungenermaßen in Deutschland verbrachten.

Dazu zählt das Manuskript „Polonaise Allerheiligen“ des Schriftstellers Tadeusz Nowakowski, der nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Salzwedel im DP-Camp Haren im Emsland als Lehrer arbeitete. Das 1957 erschienene Buch, dessen erste Skizzen 1946 in Haren entstanden, gehört zu den wenigen Romanen aus jener Zeit, die sowohl die NS-Verbrechen als auch die Rache der Befreiten an den Bewohnern des Emslandes thematisieren. Die hatten 1946 Haren räumen müssen, das von den dort einziehenden rund 4.000 Polen in Maczków umgetauft wurde. Bis 1948 existierte hier eine selbstverwaltete Stadt, mit polnischen Kindergärten, Schulen, Bibliotheken, Theatern und Zeitungen.

Von Stanislaw Toegel sind Karikaturen von Nazis zu sehen, die er im Zwangsarbeitslager Göttingen heimlich anfertigte. Er hielt auch die Brutalität bei Vernehmungen in seinen Zeichnungen fest, mit Untertiteln wie „SS-Männer – Das Rittertum und der Stolz des deutschen Volkes“. Veröffentlicht wurden sie im Verlag Straznica (auf Deutsch: „Wachturm“) in Celle, den polnische DPs im Mai 1945 gegründet hatten. Lyrik und Prosa aus den Lagern gehörten zum Programm wie auch ältere polnische Literatur oder Kinderhefte.

Im Mai 1946 zeigte eine Ausstellung in der Stadthalle Hannover Werke, die polnische Künstler zwischen 1940 und 1946 in Deutschland schufen. Diese Aquarelle, Bleistiftzeichnungen, Ölbilder und Skulpturen sind in Bergen-Belsen nun am Bildschirm zu sehen: Landschaftsbilder, Stadtansichten aus Polen, immer wieder religiöse Motive, nur selten Menschen. Ein Plakat lädt 1946 in polnischer, englischer und deutscher Sprache zu einem Liederabend ein, dargeboten vom Juliusz-Slowacki-Theater in Flensburg und dem ­städtischen Orchester.

Gepflegt wurde in DP-Lagern auch nicht traditionelle Handwerkskunst, wie dieses Zigarettenetui zeigt Foto: LWL

Die Absicht, mit solchen Aktivitäten zum besseren Verständnis zwischen Polen und Deutschen beizutragen, dürfte sich kaum erfüllt haben. „In der deutschen Bevölkerung herrschte nach Kriegsende immer noch Hass gegenüber den Polen“, sagt Ausstellungskurator Dietmar Osses. „Die Einheimischen sahen sich als Opfer marodierender polnischer Horden“, obwohl die Kriminalität bei den Polen nicht höher gewesen sei als bei den Deutschen. „Die NS-Propaganda wirkte weiter“, ist sich Osses sicher. Eine schwere Bürde für die rund 100.000 Polen, die als „heimatlose Ausländer“ dauerhaft in Deutschland blieben und in neuen Siedlungen wie etwa in Hannover-Buchholz unterkamen.

Solche Konflikte deutet die Ausstellung häufig nur an. Das trifft auch auf die Spannungen zwischen den jüdischen und den übrigen DPs aus Polen zu, über die man im Ausstellungsbegleitband mehr erfährt: Nach Klagen über gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den beiden Gruppen wurden im Herbst 1945 im polnischen DP-Camp Bergen-Belsen die 9.000 jüdischen von den 10.000 nicht-jüdischen DPs getrennt. Auch andernorts gab es fortan keine gemeinsamen polnischen DP-Lager mehr – Juden wollten mit den häufig antisemitischen Polen nichts mehr zu tun haben, nicht-jüdische Polen sahen sich dagegen ungerecht behandelt, weil sie es schwerer als Juden hätten, nach Übersee zu emi­grieren.

Das Fazit des Soziologen Jacek Barski im Begleitbuch: Die Kultur in den DP-Camps hat vielen traumatisierten Menschen buchstäblich das Leben gerettet. Tadeusz Borowski konnte dagegen seine KZ-Erlebnisse nicht überwinden – er nahm sich 1951 im Alter von 28 Jahren das Leben.

„Zwischen Ungewissheit und Zuversicht. Kunst, Kultur und Alltag polnischer Displaced Persons in Deutschland 1945–1955“: bis 19. November, Gedenkstätte Bergen-Belsen.Termine zu Begleitveranstaltungen: www.bergen-belsen.de