Hallo Berlin

Ein grüner Ministerpräsident, ein grüner Oberbürgermeister in der Landeshauptstadt, renitentes Volk auf den Straßen – was ist bloß los in Baden-Württemberg? In diesem einst schwarzen Biotop, das bestenfalls für die CDU ein „Musterländle“ war. 58 Jahre Filbinger, Teufel, Mappus haben die Region geprägt, bis dieser vermaledeite Bahnhof erschien, an dem es kein Halten mehr gab.

Aus scheinbar braven Bürgern wurden, je nach Sichtweise, Wut- oder Mutbürger, die etwas gegen die hatten, die glaubten, das Land gehöre ihnen. So gesehen war dieser Bahnhof, weithin als „Stuttgart 21“ bekannt, nur ein Ventil dafür, was sich lange angestaut hatte: der Verdruss über die politische Klasse. Übrigens – wer ihn besichtigen will, kann das jeden Montag tun, inzwischen zum 146. Mal, wenn zwischen zwei- und dreitausend Menschen vor dem Rathaus demonstrieren. Natürlich gegen das „dümmste Großprojekt“ (Süddeutsche Zeitung), aber auch gegen das „Diktat der Finanzmärkte“, das zuletzt der Chef der Linken, Bernd Riexinger, vor Ort gegeißelt hat. Neben ihm ein Ex-Richter, ein Pfarrer und die „Unternehmer gegen S 21“.

Außerhalb von Baden-Württemberg ist darüber mächtig gestaunt worden. Und dann ist die Rebellion, wie so Vieles, vergessen worden. Im besten Fall noch mit dem Hinweis versehen, die Schwaben und Badener sollen endlich Ruhe geben. Sie haben es nicht getan, sie streiten weiter und sie werden sich auch von Ministerpräsident Kretschmann nicht beruhigen lassen, der eigens eine Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung installiert hat. Die Symbolpolitik des Gehörtwerdens hat sie bisher nicht überzeugt.

Einer von draußen, der diesen Kulturbruch früh erkannt hat, war Jakob Augstein, der Verleger des Freitag. Er sprach von einem „Stuttgarter Labor“, in dem künftige gesellschaftliche Prozesse wie unter einem Brennglas zu betrachten seien. Aktiv geworden ist die taz, die in Kontext:Wochenzeitung die Stimme der „Stuttgarter Republik“ gesehen hat. Ein kritisches Online-Magazin (www.kontextwochenzeitung.de), das keinem Verlag gehört, sondern von seinen Lesern finanziert und von erfahrenen Journalisten gemacht wird. Ein solches Projekt, schrieb einst der Spiegel, könne nur in Stuttgart funktionieren. Es gelingt seit April 2011. Seitdem liegt die gedruckte Kontext:Wochenzeitung der taz-Westausgabe bei, die von Bielefeld bis zum Bodensee und bis nach Bayern reicht – und taz- Geschäftsführer Karl-Heinz Ruch „extrem glücklich“ werden ließ.

Und wir von Kontext sind glücklich, dass es uns jetzt auch in Berlin und den neuen Bundesländern gibt. Wenn „Kalle“ Ruch sagt, die taz wolle auch diese Leserinnen und Leser über die „spannenden Entwicklungen“ im neuen Baden-Württemberg informieren, weil sie „überregional von Bedeutung“ sind, dann ist der Auftrag beschrieben. In diesem Sinne: Hallo Berlin.

Josef-Otto Freudenreich