„Zukunft wird aus Mut gemacht“ – aber ob sie die Farben Jamaikas tragen soll, ist unter Grünen umstritten Foto: Björn Kietzmann

Adieu, Jamaika?

Grüne Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt schließen ein Bündnis mit Union und FDP nicht aus. Doch der linksgrüne Flügel stemmt sich mit aller Macht gegen diese Option

aus Berlin Ulrich Schulte

Cem Özdemir, 51, hat Schweißflecken im Hemd, als er ganz am Ende seiner Rede auf dem Parteitag im Juni über die heikle Koalitionsfrage spricht. „Wenn alle immer alles ausschließen, dann bleibt es am Ende bei der Großen Koalition.“ Sehe er sich die Jamaika-Koalition in Schleswig-Holstein und Schwarz-Gelb in Nordrhein-Westfalen an, dann gelte: „Grüne machen halt doch den Unterschied in einer Regierung aus.“

Eine Jamaika-Koalition, in der die Grünen mit Union und FDP regieren, ist besser als ganz ohne Grüne? Für diese Ansage bekam Özdemir minutenlang Standing Ovations. Doch je näher der Wahltag rückt, desto mehr gärt es hinter der Fassade der Ökopartei. Während mancher Realo vom Regieren mit Jamaika träumt, ist das für viele Linksgrüne eine Horrorvorstellung. Am Sonntag wollen sie sich auf einem Länderrat Mut für den Endspurt machen. Über allem schwebt die Frage, mit wem man nach der Wahl koalieren könnte – und würde. Die Grünen steuern deshalb auf einen Machtkampf zu.

Einiges spricht dafür, dass Merkel nach dem 24. September erst einmal Jamaika verhandeln wird. In den meisten Umfragen ist das die einzige Option neben der Großen Koalition. Die SPD ist des Regierens müde, viele Sozialdemokraten hoffen auf eine Frischzellenkur in der Opposition. Selbst skeptische Linksgrüne räumen ein, dass ihre Partei die Option in diesem Fall ernsthaft sondieren müsste. Alles andere wirke verantwortungslos. Doch eigentlich wollen sie ein solches Bündnis verhindern. Unter Linksgrünen im Bundestag kursiert ein Bonmot: „Seehofer und Lindner, das ist ein Arsch zu viel.“

Die beiden Spitzenkandidaten Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt tun derzeit so, als liege nichts ferner als ein Jamaika-Bündnis. Ihre Partei schwächelt in den Umfragen, sie brauchen jedes Prozent. 62 Prozent der Grünen-Wähler sähen laut Umfragen lieber Angela Merkel im Kanzleramt als Martin Schulz, den nur 30 Prozent besser fänden. Doch 8-Prozent-Grüne können es sich eben nicht leisten, auch nur einen rot-grünen Wechselwähler zu verlieren. Außerdem sind Seehofer und Lindner eine andere Hausnummer als Merkel. Beiden wirken auf urgrüne Fundis geradezu abstoßend.

So tanzen Özdemir und Göring-Eckardt auf einem schmalen Grat. Für diese Koalition fehle ihnen jegliche Fantasie, sagen sie. Freidemokraten negierten die Klimakrise, für sie seien Windräder die Hauptgegner, sie würden die EU mit Ideen wie einem Austrittsrecht in eine neue Krise treiben. Aber sie sagen nicht: Wir schließen ein Jamaika-Bündnis definitiv aus. So wollen sie linke Wähler nicht verschrecken, aber alles offen halten.

Auf dem Länderrat plant der Bundesvorstand ein ähnliches Kunststück. Er will ein Signal maximaler Distanz, aber die Tür nicht verschließen. Der Leitantrag, der am Mittwochabend veröffentlicht wurde, drischt über weite Strecken auf die FDP und Schwarz-Gelb ein. Mit Schwarz-Gelb verfehle Deutschland seine Klimaschutzziele, heißt es, der Verbrennungsmotor werde unter Bestandsschutz gestellt und die europäische Spaltung vertieft.

Alle können in das Papier eigene Vorlieben hineinlesen. Die grünen Jamaika-Anhänger finden gut, dass ein Ausschluss fehlt. Die Linksgrünen loben, dass zwischen den Zeilen die Botschaft steckt: Man werde nicht Steigbügelhalter für Union und FDP spielen.

Grüne aus dem linken Flügel misstrauen dem bürgerlichen Spitzenduo. Sie glauben, dass Özdemir und Göring-Eckardt jeden Inhalt herschenken, weil sie um jeden Preis regieren möchten. Beide hätten wohl nur in einer Regierung eine Zukunft. Landen die Grünen mit einem schwachen Ergebnis in der Opposition, wäre ihre Karriere vorerst beendet.

Risiko Lagerwechsel

Viele Linksgrüne ärgert, wie sehr die Realos diesen Wahlkampf dominieren. Wenn man sie trifft, zählen sie stolz die Erfolge auf, die sie auf Parteitagen durchkämpften – gegen den Widerstand der Realos: Die Vermögensteuer und das Ende der Hartz-IV-Sanktionen, das Ziel des Ausstiegs aus dem Verbrennungsmotor im Jahr 2030. Und, natürlich, die Ehe für alle, die Volker Beck zur harten Koalitionsbedingung machte.

Gleichzeitig muss der linke Flügel zusehen, wie Winfried Kretschmann, der Oberrealo aus Baden-Württemberg, ganz andere Akzente setzt. Kretschmann lobt Daimler und den sauberen Diesel, konterkariert munter die Position der Bundespartei. Auch Özdemir und Göring-Eckardt halten viele Linksgrüne für zu brav. Als Özdemir nach einer Parteivorstandsklausur Ende August ein Papier zur Mobilität der Zukunft vorstellt, sagt er, die nächste Bundesregierung müsse den „Einstieg in den Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor beschließen“. Kein Wort zum 2030-Ziel, obwohl Journalisten mehrmals nachfragten.

So wächst der Frust bei den Linken. Ein Jamaika-Bündnis gilt bei vielen als Tabubruch, der die angeschlagene Ökopartei ins Verderben stürzen könnte. „Die machen uns fertig“, sagt eine Abgeordnete. Die CSU werde die Grünen vor der Bayern-Wahl 2018 als Punchingball nutzen. Die FDP sei bei Klima- und Energiepolitik, beim Sozialen oder den Steuern maximal weit von grüner Programmatik entfernt. Sie könne auch keine kooperative Strategie fahren, weil sie die Erwartungen der Industrieverbände bedienen müsse. Jamaika, dieser Satz fällt immer wieder, bedrohe die Grünen in ihrer Existenz.

Einiges spricht dafür, dass Angela Merkel nach dem 24. September erst einmal Jamaika verhandeln wird. In den meisten Umfragen ist das die einzige Option neben der Großen Koalition

Ein Lagerwechsel ist nicht zu unterschätzen. Die Grünen würden nicht nur jahrzehntelang eingeübte Erwartungen ihrer linken Mitglieder und Wähler enttäuschen. Sie, die in den 80ern als bunter Mix aus der Anti-AKW- und Umweltbewegung, aus Friedensaktivisten und neuen Linken das Parteiensystem aufmischten, brächen durch dieses Bündnis auch mit ihrer Gründungsgeschichte. Was das bedeutet, erfuhr die FDP 1982. Damals zerbrach die sozialliberale Koalition, die Freidemokraten wechselten mit fliegenden Fahnen zu Helmut Kohl und seiner CDU. Die FDP verlor ein Fünftel ihrer Mitglieder.

So ähnlich analysiert manch grüner Stratege Jamaika. Das realpolitische Argument, man müsse unbedingt regieren, um das Schlimmste zu verhindern, kehre sich um, wenn eine Regierung nach zwei Jahren kollabiere – und die Grünen aus dem Parlament flögen.

Die Rechnung der Jamaika-Skeptiker: Özdemir und Göring-Eckardt seien nach einem Ergebnis um 8 Prozent so geschwächt, dass sie kein starkes Mandat für Verhandlungen hätten. Schon in der Sondierungsgruppe, die flügelparitätisch besetzt werden soll, gäbe es dann Widerstand gegen allzu große Zugeständnisse. Merkel, Seehofer und Lindner könnten den Grünen gar nicht so viel bieten, dass eine geschlossene Empfehlung für einen Koalitionsvertrag zustande käme. Außerdem werde die Fraktion nicht geschlossen für Merkel stimmen.

Realos hingegen verweisen auf die Schnittmengen mit der FDP bei der Digitalisierung, der Bildung und den Bürgerrechten. Bei manchen Themen könne man sich mit ihr gegen die Union verbünden, sagen sie. Heikel seien die Ökologisierung der Wirtschaft und der Klimaschutz, weil hier große Differenzen klafften. Allerdings, sagt ein gut vernetzter Realo, sei Merkel wohl bewusst, dass sie den Grünen etwas geben müsse. „Wenn Merkel uns einlädt und Verhandlungen scheitern, wäre das auch für sie peinlich. Das weiß sie.“

Ein strategisches Argument spricht für die Jamaika-Fans. Über einen Koalitionsvertrag sollen die gut 61.000 Parteimitglieder abstimmen, nicht ein Parteitag, zu dem viele linke Funktionäre kämen. Ein normales Mitglied, das Politik vor allem im Fernsehen verfolgt, würde den Kurs der Spitze eher absegnen, so die Hoffnung. Die Fraktion müsse sich dann an die Mehrheitsentscheidung der Basis halten, heißt es bei den Realos. So funktioniere Demokratie.