Wie der Komponist die Musik verlor

ILB 8 Die kanadische Autorin Madeleine Thien stellte beim Literaturfestival ihren neuen Roman vor. „Sag nicht, wir hätten nichts“ ist eine Verlustgeschichte in dreierlei Hinsicht

Gleich am Anfang liefert die Moderatorin Gabriele von Arnim eine sehr gute Erklärung dafür, worin die Faszination von Made­leine Thiens drittem Roman „Sag nicht, wir hätten nichts“ besteht. Sie fragt die kanadische Autorin, die beim Literaturfestival Buchpremiere feiert, nach ihren Wurzeln. Thien erzählt: Ihre chinesischen Eltern seien kurz vor ihrer Geburt aus Hongkong und Malaysia nach Kanada gekommen. Während die älteren Geschwister noch mit den Eltern Erinnerungen an die alte Heimat hätten teilen konnten, sei sie bei solchen Gesprächen außen vor gewesen. Ebenso wie an jenen Abenden, als ihre Tanten gekommen seien, um miteinander zu kochen und Kantonesisch zu sprechen. Die Eltern hätten sich entschieden, nach ihrer Ankunft in Kanada mit den Kindern nur noch auf Englisch zu reden. Thien sagt: „Diese Abende gehören trotzdem zu meinen glücklichsten Kindheitserinnerungen.“ Ihre Mutter sei in diesen Momenten zu einem ganz anderen Menschen geworden.

Es ist, als hätte sich die inzwischen 42-jährige Schriftstellerin diese Haltung auch ihren Helden gegenüber bis heute erhalten: Eine Art der melancholischen, weil nicht teilnehmen könnenden Beobachtung von Verlustgeschichten, die auf diese Weise zu doppelten Verlustgeschichten werden. Mit diesem Blick hat Thien bereits ein Buch über die Länder ihres Vaters, also Malaysia, geschrieben und eins über den Genozid in Kambodscha.

Nun hat sie eins über die Volksrepublik China geschrieben, über eine Musikerfamilie, aus Sicht eines chinesischen Mädchens in Kanada, dessen Vater Pianist gewesen war und Selbstmord beging. Marie, so ihr Name, findet Menschen, die über den Terror des chinesischen Bürgerkriegs, der großen Hungersnot und schließlich der Kulturrevolution nach und nach verstummt sind. Die Hauptfigur, ein Komponist, heißt ausgerechnet Sperling – wo doch Spatzen eigentlich bekannt dafür sind, dass sie niemals den Schnabel halten. Anders als Maries Vater geht er nicht ins Exil, sondern in die innere Emigration. Am Ende muss er Radios und Kisten zusammenbauen und denkt nicht einmal mehr richtig an die ­Musik, die einmal sein Leben war.

Fast hätte Madeleine Thien für den Roman den Man Booker Prize bekommen. „Sag nicht, wir hätten nichts“ ist vielleicht deshalb das bislang beste der Bücher von Madeleine Thien, weil es nicht nur von Menschen handelt, die „bis in den letzten Winkel ihres Menschseins verfolgt werden“, wie Journalistin von Arnim es auf den Punkt bringt.

Das Buch verhandelt auch die Kraft der Gedanken, den schmalen Grat zwischen Idealismus und Gewalt, der um 1970 herum auch von Europa aus so anziehend gewirkt haben mag. „Ich war selbst als Teenager sehr idealistisch“, so Thien. Sie hätte es geglaubt, wenn ihr jemand gesagt hätte, dass sie nur alles opfern muss, damit die Welt ein besserer Ort wird. Noch einen Grund gibt es, warum der Roman so berührend ist. Es schwingt noch eine dritte Verlustgeschichte mit: die Sehnsucht nach dem großen Erbe einer tausend Jahre alten Hochkultur, wie sie oft in der chinesischen Diaspora – ob in Hongkong, Malaysia oder Kanada – kultiviert wird. Nach einer ­Kultur, die eben in China selbst über Jahrzehnte zerschlagen wurde.

Ein Akt der Liebe sei ihr Buch gewesen, sagt Madeleine Thien. Das China, das sie beschreibt, dürfe nicht vergessen werden – für unser aller Zukunft. Bei einigen im Publikum sieht man feuchte Augen, als die Lichter angehen. Susanne Messmer

Das Internationale Literaturfestival Berlin (ilb) geht am heutigen Samstag zu Ende. In unserer ilb-Kolumne berichten unsere Autorinnen und Autoren von den Lesungen und Diskussionen