der rote faden
: Dieses Land mit seiner verdammten Gemütlichkeit

Foto: Sebastian Wagner

Durch die Woche mit Nina Apin

Es wird Herbst in Deutschland, und die Melancholie senkt sich allerorten über die Häuser, Bäume, Büroräume. Die Wahl ist geschafft, Merkel ist noch da, und auch das Parlament ist nicht zusammengebrochen, obwohl dort jetzt „die Neuen“ sitzen, um deren Gesellschaft keiner gebeten hat, die aber nun mal von 12,6 Prozent derer gewählt wurden, die zur Wahl gegangen sind. Ja, was willste machen, schau, es wird jetzt früher dunkel, essen wir heut wieder Kürbissuppe mit Croutons?

Kürbissuppe

Der Herbst mit seiner verdammten Gemütlichkeit passt zu diesem weich gepolsterten Land wie Arsch auf Eimer: Irgendwie hat man das Gefühl, dass es demnächst ungemütlich werden könnte. Aber noch sind die Kassiererinnen im Netto nebenan nicht durch Roboter ersetzt, noch parken sie vor der Grundschule ihre Dieselschleudern in zweiter Reihe, und noch wüten Stürme in fernen Ländern – und man schaut im Internet dem US-amerikanischen Präsidenten aus sicherer Distanz dabei zu, wie er es schafft, Puerto Rico mit unpassenden Worten und unfassbar wenigen Taten erneut zu kolonisieren. Gar nicht zu reden vom Ratschlag an die Hinterbliebenen des Massakers von Las Vegas, jetzt zum Herrgott zu beten – als sei die Verfügbarkeit von vollautomatischem Mordgerät eine Sache, die metaphysisch zu lösen ist statt im Kampf mit der Waffenlobby.

Hier haben wir es doch bedeutend gemütlicher: Die Grünen nutzen den AfD-Schock, um mal ihren Heimatbegriff zu sortieren: Braucht der Mensch in der „Unbehaustheit“ der Moderne, frei nach Göring-Eckardt, eine Heimat, um sich Herz und Seele zu wärmen? Und müssen nicht auch Grüne jetzt sagen „Wir lieben dieses Land“, um die Setzung nicht den Rechten zu überlassen? Die Grüne Jugend fand, „Heimat“ sei als ausgrenzender Begriff indiskutabel, und plädierte, in schamloser Aneignung genuin sozialdemokratischen Gedankenguts, für den griffigen Slogan „Solidarität statt Heimat“.

Die Neuen im Bundestag, denen man ja erst mal unterstellen würde, von solchen Selbstposi­tionierungszweifeln völlig unangekränkelt zu sein – immerhin scheinen sie doch genau zu wissen, was (und wessen) Heimat ist –, haben ihre ersten Heimatvertriebenen produziert: Nach der ehemaligen Parteichefin Frauke Petry wird auch der nordrhein-westfälische Abgeordnete Mario Mieruch als Fraktionsloser im Bundestag sitzen. Spannende Frage: Wer will überhaupt neben den beiden sitzen? Kriegen sie dann in der letzten Reihe so Büßerbänkchen angeschraubt wie einst Petra Pau und Gesine Lötzsch, damals PDS?

Puerto Rico

Wir in der taz sind da ja nicht so ausgrenzend, wir halten es mit dem Dialog: Unser Chefredakteur zwängte sich Mitte der Woche ganz selbstverständlich neben das große Ego des Welt-Chefs Ulf Poschardt auf ein Podium, um die Zukunft der gedruckten Zeitung zu diskutieren. Früher stand der bekennende Porschefahrer aus dem Axel-Springer-Hochhaus noch unter massivem Neoliberalismus-igitt-Verdacht und wurde eher gemieden. Aber hey, neue Zeiten erfordern eben neue Al­lianzen.

Am Donnerstag, als Sturmtief „Xavier“ Berlin durchrüttelte, war viel Gemecker, aber auch viel Solidarität: Kindergärtnerinnen harrten so lange auf Arbeit aus, bis es auch die letzten Eltern auf teils abenteuerlichen Wegen geschafft hatten, ihre Kinder dann doch noch abzuholen. Wildfremde Ehemänner chauffierten gestrandete Pendlerinnen, die ihre Frauen beim vergeblichen Warten auf die S-Bahn kennengelernt hatten, wie am nächsten Tag eine Kollegin erzählte, die von der Berliner Redaktion bis nach Potsdam vier Stunden gebraucht hatte.

Büßerbänkchen

In meiner Straße gab es sogar Szenenapplaus für die Bundespolizei, die mittels schwerer Räumfahrzeuge einen umgestürzten Baum von der Fahrbahn holte und parkende Autos befreite. Und das in einer Gegend, in der sonst Rettungseinsätze gern mal von Gaffern blockiert werden und Polizisten die Tür vor der Nase zugehauen wird. Fehlte nur noch, dass einer der Jungsalafisten den Beamten eine Tasse dampfenden Çay gebracht hätte.

Jungsalafisten

Aber man muss es jetzt auch nicht übertreiben mit dem neuen, heimatlichen Herbstgefühl. Ich bin jedenfalls erleichtert, dass Angela Merkel doch nicht den Friedensnobelpreis gewonnen hat. So, und jetzt verkrieche ich mich auf meine herbstfarbene Wohnzimmercouch und schaue mal nach, ob es „Was vom Tage übrigblieb“ auf Netflix gibt. Wenn nicht, muss ich das neue Buch von Virginie Despentes lesen. Hat mir eine Freundin mitgebracht – damit mir nicht zu gemütlich wird.

Nächste Woche Johanna Roth