Wie kann man ohne Menschen zu lieben überhaupt leben?

Helge Timmerberg reist seit Jahrzehnten um die Welt und schreibt darüber, journalistisch, literarisch, persönlich. In seiner Wahlheimat St. Gallen sprachen wir mit ihm über sein neues Buch und das Altern, über die Angst vor dem Losfahren und die Notwendigkeit des Kiffens

Foto: Claudio Bäggli

Von Henning Kober
(Gespräch) und Claudio Bäggli (Foto)

St. Gallen, Schweiz. Helge Timmerberg führt hinauf zu der Villa aus Backstein, in der er eine Einliegerwohnung zu seinem Schreib­ort gemacht hat. Der Schreibtisch füllt einen hellen Erker. Gerade kam mit der Post sein neues Buch, „Die Straßen der Lebenden“, darin: Texte aus Sarajevo, Rio, Rom, Indien und Sizilien. Nachdem wir die Fotos erledigt haben, sitzen wir in der kleinen Küche, in der sich das Geschirr türmt („schön chaotisch, mag ich gern“). Timmerberg, der noch nicht gefrühstückt hat, macht Spiegeleier. Zwei für mich, zwei für ihn, dazu Butterbrote. Er ist noch nicht lange zurück aus dem Himalaja, und er war krank, eine Bronchitis. Aber es geht besser. Schließlich nehmen wir auf seiner umglasten Veranda Platz. Timmerberg streicht sich über die dunkelblaue Cordhose, nimmt eine Marlboro aus dem Etui, das die Schockbilder überfunkelt, zündet sie sich an, und unser Gespräch beginnt.

taz.am wochenende: Herr Timmerberg, der Autor im Exil. Das ist auch ein romantischer Gedanke.

Helge Timmerberg: Die Schweiz hat sich gedreht. Ich erinnere mich, als ich hier vor einigen Jahren ankam und in den Zug stieg, saß mir ein junger Soldat gegenüber, der sich völlig offen einen Joint baute. Das gibt es nicht mehr.

Ist das Schöne am Woanderssein dann, dass man Deutschland verdrängen kann?

Als ich jung war, habe ich Deutschland abgelehnt. Schützenfeste, Karneval, Fußball, ich fand das alles zum Kotzen. Ich bin 1952 geboren, sieben Jahre nach Ende des Krieges. Meine Kindheit und Jugend fühlten sich noch von den Nazis überschattet an. Auch mein Vater war Nationalsozialist.

In welchem Jahr ist Ihr Vater geboren?

1926. Der wurde 1942 als Soldat eingezogen und war als junger Mann total infiltriert vom Dritten Reich, später wurde er dann ein aufrechter SPD-Mann.

Sie haben die Grüne Partei mitgegründet. Was hat Sie damals an Politik fasziniert?

Ich war Hippie und eigentlich unpolitisch, aber in den 1970er Jahren wohnte ich in einem kleinen Dorf in der Nähe von Braunschweig, zwei Kilometer entfernt von der Asse, wo sie die erste Atommülldeponie eingerichtet hatten. Die Beschwichtigungen der Atomindustrie regten mich auf und so wurde ich aktiv und gründete die Grüne Liste Umweltschutz mit, aus der dann die Grünen hervorgehen sollten. In die Politik einzugreifen mit einer eigenen Partei, die vielleicht sogar das Kiffen legalisieren will, das war stark. Und dass wir Erfolg hatten. Du machst einen Fußballclub auf und gewinnst plötzlich.

Warum sind Sie nicht dabeigeblieben?

Ich hatte die Asse-Geschichte dann für den Stern gemacht und das war für mich der Sprung nach Hamburg. Als Journalist hatte ich mehr Einfluss, konnte Meinung machen.

Aber ein politischer Journalist sind Sie dann trotzdem nicht geworden.

Ich habe damals viel über Leute aus der Bewegung geschrieben, Interviews, Reportagen, das wurde mir aber nach einiger Zeit langweilig. Dann hat der Kiez zugeschlagen, St. Pauli, Huren, Zuhälter, Straßengangs, diese Geschichten. Ich war immer auf Leben aus. Mein Trachten war immer nach mehr Freiheit. Gegen die Macht und gegen die Mächtigen. Wer hat mir was zu sagen und was soll das?

Sie sind gerade zurück aus Nepal. Warum waren Sie dort?

Ich wollte Kashinath finden, jenen Wandermönch, der mir auf meiner ersten Reise vor sechzehn Jahren das Mantra gegen die Angst gegeben hatte.

Sie erzählen von dieser Begegnung in Ihrer Autobiografie, „Die Rote Olivetti“.

Der hatte mir damals das Leben gerettet. Ich fand, es war Zeit, dieses Mantra zu erneuern. Leider habe ich Kashinath nicht finden können. Einer sagte mir, er sei in Indien.

Aber die Reise hat sich dennoch gelohnt?

Ich glaube schon, aber das muss ich noch beim Schreiben he­raus­finden.

Sie sind in diesem Jahr 65 Jahre alt geworden. Wie schafft man es, so lange Menschenfreund zu bleiben?

Ich mag einfach Menschen. Wie kann man, ohne Menschen zu lieben, überhaupt leben?

Man kann sich zurückziehen.

Menschen sind so lustig, so traurig. Wölfe lieben Wölfe. Menschen lieben Menschen. Und ich habe viele positive Erfahrungen gemacht.

Kennen Sie die Angst vor dem Losfahren?

Oh ja, und die ist unheimlich. Das fing vor etwa zehn Jahren an, nachdem ich oft genug die Erfahrung gemacht hatte, wie sich meine Hoffnungen in eine Reise zerschlagen haben. Ich bin oft weg, weil ich mich gelangweilt habe, oder es ging um ein Problem, von dem ich dachte, es nur hier zu haben. Plötzlich bist du auf der anderen Seite des Planeten, und die Probleme sind dieselben wie zu Hause, weil du sie ja in dir mitgenommen hast.

Der Kopf macht das Reisen beschwerlicher, der Körper auch?

Beides. Ich stecke schlaflose Nächte nicht mehr so leicht weg, ich werde schneller krank. Das ist eine Frage des Alters, und dazu kommt, dass ich so spontan bin. Ich hielt das lange für gut, aber es kostet viel Energie. Ich treffe eine Entscheidung nicht einmal, sondern zehnmal – und am Schluss werfe ich doch eine Münze.

Hauptsache, man entscheidet sich.

Und zieht es durch, egal was das Ergebnis ist. Wenn du dich nicht entscheiden kannst, bedeutet das auch, dass die Möglichkeiten für dich fast gleichwertig sind. Aber ich bin oft im Krieg mit mir. Ich bin nicht ein Ich, sondern mehrere, sieben vielleicht. Die kämpfen und ringen miteinander, das ist eine ständige Zerrissenheit, in der ich lebe.

Ihre Konstante ist Schreiben?

Solange es nicht funkt, gibt es nichts Schlimmeres als Schreiben. Aber sobald die Trance da ist, sobald du merkst, die Ideen fließen – boah, ist das schön.

Muss man auf einer Reise die eigene Schüchternheit überwinden?

In Nepal ist es leicht, da sind die Menschen offenherzig, und du kannst dir aussuchen, auf wen du dich einlässt. Ein schönes Hotelzimmer, in das du dich zurückziehen kannst, finde ich wichtig. Manchmal fühle ich mich unterwegs so leer und so schwach, dann meditiere ich und liege rum. Aber ich kenne das auch, dass ich mich der Reise verweigere, weil ich schüchtern bin.

Muss man deshalb gerade Risiken eingehen?

Sein Leben

Geboren 1952 in Dorfitter in Nordhessen. Beschloss als 17-Jähriger auf seiner ersten Indienreise, Journalist zu werden. Seitdem Weltreisender. Ließ sich vom Gonzo-Journalismus Hunter S. Thompsons inspirieren und veröffentlichte zahlreiche Bücher. Wohnt in St. Gallen.

Sein neues Buch

„Die Straßen der Lebenden: Storys von unterwegs“ erschienen bei Malik, 20 Euro. Nächste Lesungen am 6. November in Heidelberg (Buchhandlung Karl Schmitt), 7. November in Weißenburg (Wildbadsaal) und 8. November in Dresden (Thalia).

Mit 17 hab ich darüber nicht nachgedacht. Das ist inzwischen anders. Ich wusste, wenn du jetzt zurückkommst, sind Lesungen, also darfst du dir keinen Fuß brechen. Dazu kommt: Bevor ich losfahre, kiffe ich, weil ich ja immer kiffe. Aber mit dem Kiffen kommen auch die Ängste.

Hatten Sie nicht mal aufgehört?

Doch, ein halbes Jahr. Ich war leicht, ich hatte weniger Ängste. Habe aber scheiße geschrieben.

Also wieder angefangen?

Klar, das ist ja auch eine Sucht. Wenn ich dann am Morgen nüchtern losgehe, denke ich: Was war denn gestern Abend los, gaga oder was?

Und die Ängste kamen zurück?

Wenn du dich auskennst, aufmerksam bist, weißt du ja, was wirklich gefährlich ist, und die meisten Situationen sind es nicht. In den letzten zwei Jahren war ich allerdings meistens zusammen mit meiner Freundin unterwegs, das ist anders.

Sie beschreiben in den „Straßen der Lebenden“, wie Sie beide betrunken und streitend durch Palermo laufen und Sie Angst haben, dass Ihre Freundin das Opfer sein könnte.

Das größte Risiko zu zweit ist, dass man sich zerfleischt und sich nicht mehr sehen kann. Allein wegen meiner Körpergröße überlegt jeder, ob es sich lohnt, sich mit mir anzulegen. Er weiß ja nicht, dass ich nicht in Form bin. Strahlst du Angst aus, bist du ein Opfer. Strahlst du Selbstbewusstsein aus, bist du entweder ein Idiot oder kein Opfer. Da sind die Chancen besser.

Richtig schreiben geht nur in der Nacht?

Entscheidend ist die Konzentration, der Flow, und der entsteht in der Nacht leichter, weil es keine Unterbrechungen gibt.

Wie lange geht es, ohne zu schrei­ben?

Es gibt eine Geschichte aus Japan, von einem Mann, dem auf dem Markt ein kleines Teufelchen verkauft wird. Dessen Fähigkeit ist es, Dinge zu erledigen. Aber du musst es jeden Tag beschäftigen, trägt der Händler dem Mann noch auf. So macht er es, und sein Leben verbessert sich nachdrücklich, bis er eines Tages beim Saufen versackt. Als er am nächsten Morgen nach Hause kommt, findet er das Teufelchen in der Küche, wie es das Nachbarskind am Spieß brät. So ist das auch mit dem Schreiben, es muss regelmäßig gemacht werden, sonst passieren schlimme Dinge.

Irgendwann ist es vorbei, auch ein Schriftsteller muss aufhören. Hat Sie der radikale Weg von Hunter S. Thompson überrascht?

Ich war wirklich sauer. Hunter war ein Schreibgott für mich. Er war schon ziemlich kaputt, als ich ihn traf, da war ich Mitte dreißig und er Mitte fünfzig. Es gibt verschiedene Theorien für seinen Suizid. Eine drogenbedingte Depression? Krebs? Ihm war wichtig, wie uns allen: Was ist mit Liebe, was ist mit Sex? Und ab einem gewissen Alter reduziert sich die Potenz. Das geht in Schüben, das merk ich auch. Du bleibst jahrelang auf einem Level, und plötzlich stellst du fest, etwas hat sich verändert, nur noch einmal die Woche.

„Schub“ klingt brutal.

Ist es auch, es fehlt die Zeit, dich seelisch mitzuentwickeln. 68 war Hunter, das ist das Alter, wo langsam mal Sense ist. War es das, was ihn fertiggemacht hat?

Sie sind in den vergangenen fünfzehn Jahren berühmt geworden. Übertreffen die Vorteile die Nachteile?

Wenn ich auf der Straße angesprochen werde: „Bist du nicht … ich hab all deine Bücher gelesen …“, hilft mir das, mit mir selbst klarzukommen. Du bist doch kein Penner! Passiert das am Bahnsteig und ich kann gleich in den Zug, kann das toll sein. Schreiben ist eine Komprimierung, da kommen oben zwei Wochen Kathmandu rein, mit viel Wasser, und irgendwann ist unten ein Mokka fertig. Die Leser aber kennen nur den Mokka, nicht mich mit meinem Wassertopf. Soll ich denen jetzt zeigen, dass ich kein Held bin?

Was sind die Geborgenheiten Ihrer Kindheit?

Ich bin die ersten sieben Jahre bei meinen Großeltern aufgewachsen. Meine Eltern haben beide viel gearbeitet. Meine Mutter war berufene Kellnerin, musste sie auch sein, weil mein Vater Probleme hatte und nie da war, der kam nur am Wochenende. Bei meinen Großeltern, das war komplett glücklich, nur Liebe, kein böses Wort. Das Leben spielte sich in deren ­Wohnküche ab. Meine Oma war an ihrem riesigen gusseisernen Ofen. Da stand auch der Fernseher, ihr Sessel und ein großer Tisch. Dahinter ein Sofa, auf dem ich schlummerte, die Stimmen und Gerüche im Hintergrund.

Sie haben sich selbst als hochsensibel beschrieben. Was bedeutet das?

Die totale Empathie. Sehe ich, jemand ist traurig, spüre ich das sofort bei mir. Ich kriege alles mit, Menschen, Mimik, Augen, Stimme, wie der eine mit dem anderen ist. Für die Arbeit ist es hilfreich, aber trifft es auf meinen Gemütszustand und der ist schwach, kann es sehr unangenehm sein. Ich habe zu viel Mitgefühl.

Hatten Ihre Eltern diese Sensibilität auch?

„Ich bin oft im Krieg mit mir. Ich bin nicht ein Ich, sondern mehrere, sieben vielleicht. Die kämpfen und ringen miteinander, das ist eine ständige Zerrissenheit, in der ich lebe“

Meine Mutter. Ihre Familie kam aus dem kleinen Dorfitter am Edersee, und die waren bekannt dafür. Bei meiner Mutter war das verhängnisvoll. Mein Vater, der Fernfahrer war, kam mit dem Lkw durch ihr Dorf. Er war ein Frauenheld, er machte sie ein bisschen beschwipst, dann kam bald ich. Schon in der Kirche weinte sie innerlich, weil sie an den Förster dachte, in den sie eigentlich verliebt war. Aber sie hatte meinem Vater ihr Wort gegeben, da konnte man nicht mehr Nein sagen. Mein Vater war nicht sensibel. Der konnte gut verhandeln. Was der wollte, wollte er. Der war gerade.

Das Robuste haben Sie aber auch, Sie haben beide Seiten?

Wenn ich stoned bin, kommt meine Mutter durch. Nüchtern bin ich näher bei meinem Vater. Seitdem er im Jahr 2013 gestorben ist, erwische ich mich oft, so wie er zu sprechen, der Tonfall, die Art zu erzählen. Mein Vater konnte sehr gut reden und Leute einwickeln. So hat er Karriere gemacht. Das mit dem Lastwagen lief nicht mehr, er wurde Chauffeur beim Finanzamt, ist dann in die Gewerkschaft eingetreten und wurde ein hoher Funktionär. Ich hatte ihn ewig abgelehnt, Erzeuger. Er hatte sich nie groß um mich gekümmert.

Und Sie haben keine Geschwister?

Einen Halbbruder. Mein Vater hatte heimlich eine zweite Familie aufgemacht, das kam nach zehn Jahren zufällig raus. Richtig getroffen habe ich meinen Vater erst später in Marokko, da war ich um die vierzig. Das führte dazu, dass ich ihn einmal im Jahr, bei ihm oben im Emsland, in Papenburg, besuchte.

In Ihrem neuen Buch beschreiben Sie, wie Sie in seinem Garten sitzen und sich betrinken.

Erst am Schluss, die drei, vier Monate, bevor er starb, kümmerte ich mich um ihn, zusammen mit meinem Halbbruder, der in Bremen lebt.

Er brauchte Hilfe?

Zuletzt war mein Vater bei den Dementen auf der Pflegestation. Ich sehe ihn, wie er mit den anderen an einem großen Tisch sitzt, das war furchtbar. Die waren verwirrt und steckten ihre Servietten in die Suppe. Mein Vater trug so einen Kittel, der hinten offen war. Er merkte, wo er da war, und das hat ihn wütend gemacht. Drei Monate zuvor war er noch der King, mit dem Mercedes, und plötzlich an so einem Tisch. Irgendwann musste man das Gitter an seinem Bett hoch machen, er stieg ständig aus dem Bett, fing an zu urinieren und fiel in seiner eigenen Pisse hin. Wie ein Säugling lag er da in seinem Bettchen. Diesen kompletten Machtverlust zu sehen hat mich fertiggemacht. Ich war 60 und ich sah mich selbst dort, in 25 Jahren.

Und wie ist das mit Ihrer Mutter, lebt sie noch?

Sie ist jetzt 91 und sie verbringt ihren Tag im Fernsehsessel. Aber sie liest noch viel, ihr ganzes Leben schon. Immer Krimis. Je grausamer, umso besser. Dadurch ist sie im Kopf noch fit. Wie wird das mal bei mir sein? Aber das ist Schicksal.

Ist nicht wichtiger, wie man zuvor gelebt hat? Das Sterben ist ja meist eine vergleichsweise kurze Zeit.

Vielleicht war es für meinen Vater selbst nicht so schlimm. In Jahreszeiten gedacht, wird für mich der Herbst langsam schon spät, und bald kommt der Winter. Das Sterben ist näher. Aber auch nicht so nah, können wir auch gleich wieder vergessen.

Henning Kober, freier Autor aus Berlin, hat das Gespräch Lust gemacht, wieder einmal nach Nepal zu reisen.

Claudio Bäggeli, freier Fotograf aus St. Gallen, freute sich über Timmerbergs Privatkonzert am Schreibtisch – mit Gitarre.