Glückliche Tage in Mali

Die große Foto-Retrospektive „Malick Sidibé. Mali Twist“ in der Pariser Fondation Cartier ist auch ein Rückblick auf die politische Geschichte des Landes

Malick Sidibé, Mon chapeau et pattes d’éléphant, 1974 Foto: Fondation Cartier pour l’art contemporain, Paris

Aus Paris Brigitte Werneburg

Neben dem rasanten, in knalligem Gelb und Blau unterlegten Schriftzug „Malick Sidibé. Mali Twist“ fällt beim Entree in die aktuelle Ausstellung der Pariser Fondation Cartier gleich die große Wandvitrine auf. Sie enthält sämtliche Publikationen des Fotografen aus Mali und zeichnet damit kurz und prägnant dessen Karriere nach. Zwangsläufig kommt damit auch die Vorreiterrolle der Stiftung in Hinblick auf die außereuropäische zeitgenössische Kunst in den Blick. Nicht nur der dreizehnte und bislang letzte Bildband, der Katalog zur gerade eröffneten, großen Retrospektive, auch Sidibés erste Veröffentlichung 1995 wurde von der Fondation herausgegeben.

Beide Bände stammen von André Magnin. Der auf Afrika spezialisierte Kunstkenner entdeckt Sidibé, als er eigentlich auf der Suche nach Seydou Keïta (1923–2001) war. Denn von ihm stammten die drei Porträtaufnahmen, deren Autor Magnin in Mali ausfindig machen will. Ein Taxifahrer bringt Magnin zu Malick Sidibé (1936–2016), der ihn dann zu Keïta führt. Selten wurde jemand auf so kurzem Weg mit gleich zwei bedeutenden Fotografen des 20. Jahrhunderts bekannt.

Während Keïta seit den fünfziger Jahren das neue Bürgertum in Bamako, der Hauptstadt von Mali, in seinem Studio empfängt, wo er fein herausgeputzte Frauen in üppig ornamentierten Kleidern auf noch üppiger mit Mustern überzogenen Stoffbühnen drapiert, fotografiert Sidibé seine Clique beim Schwimmen im Niger, beim Plattenauflegen und beim Tanzen auf mehr oder weniger illegalen Partys. Als Letzter geht er nach Hause, in die Dunkelkammer, und am Tag danach liefert er den Teenagern ihre Bilder vom Dance­floor-Underground.

Eines seiner berühmtesten Bilder, „Nuit de Noël“, das ein tanzendes Paar bei einer Party im Happy Boys Club zeigt, entsteht 1963. Nur wenig früher hat der US-Amerikaner Will McBride in Westberlin seine Clique bei einer lustigen Bootsfahrt fotografiert: „Riverboat Shuffle, 1959“ bezeichnet er als eine seiner wichtigsten Aufnahmen. Er wird damit berühmt und zum Stammfotografen von Willy Fleckhaus, der die Alltagsdynamik jugendlicher Milieus in groß ausgebreiteten Fotostrecken zum Markenzeichen der Zeitschrift Twen machte. Sidibés großartige Porträts seiner Generation dagegen verloren sich im privaten Andenken der Beteiligten und glücklicherweise auch beim Fotografen selbst, in den gelben Pappboxen, in denen Kodak sein Fotopapier für die Schwarz-Weiß-Abzüge lieferte.

Kein einziges der fein säuberlich nach Monat und Jahr abgelegten Fotos erschien je in einer malischen Zeitung, bevor sein Werk in Europa entdeckt wurde. Was auch daran lag, dass 1960 zwar die Unabhängigkeit erreicht, zugleich aber durch Präsident Keïta ein sozialistisch orientierter Einparteienstaat errichtet worden war. Eine freie Presse und ein liberales Zeitschriftenwesen gab es nicht.

An deren Stelle traten die Schallplatten. „Es waren die Schallplatten“, erklärte Malick Sidibé im Interview mit der taz im Januar 2000, „denen die Jugend ihre Freiheit verdankte, diese Liberalisierung.“ Sie verstanden sofort, dass Männer und Frauen zu westlicher und kubanischer Musik zusammen tanzten. Das konnten sie, wie die Tanzschritte selbst, im Kino sehen. Und dass die Frauen in Malick Sidibés Fotografien immer dabei sind, macht nun entschieden den Zauber seines Werks aus.

Das mag ganz schlicht an der Ökonomie der Aufmerksamkeit liegen: Was rar ist, fällt umso eher auf und reizt umso mehr das Begehren. Vor allem rührt der wunderbare Charme von Malick Sidibés Bildern von der ungeheuren Lebensfreude her, die festzuhalten ihm in seinen Bildern gelang. Sichtlich blicken die Jugendlichen voll Optimismus und Selbstbewusstsein in die Zukunft. Das Gefühl, vom Rest der Welt abgehängt zu sein, existiert nicht. Auch die Mädchen nehmen sich ihre Freiheit, tragen Minikleider und Schlaghosen. Sie tanzen Twist, geben sich als lässige Fans von James Brown zu erkennen, dessen 1963 erschienenes Album „Live at the Apoll“ sie stolz dem Fotografen präsentieren.

„Riverboat Shuffle, 1959“ bezeichnete Sidibé als eine seiner wichtigsten Aufnahmen

Sie tanzen mit der Platte in einer Hausecke – das Foto, ein gelungener Hybrid zwischen Studio- und Außenaufnahme. Letztere ist eindeutig Malick Sidibés Stärke, wie in Paris zu erkennen ist. Das wird besonders bei den Aufnahmen deutlich, die am Niger entstanden. Die Jungs und die Mädchen posieren, ganz klar. Aber sie tun das mit Hingabe und Spaß an der Sache, mit Stolz auf ihr gutes Aussehen – die tollen Bilder, die sie von sich am Ende bekommen, beweisen, dass die Aufnahmen äußerst lebendig gerieten.

Allerdings macht gerade dieser Umstand den Besucher der Ausstellung auch traurig. Viele dieser glücklichen Kinder werden sich heute kaum mehr getrauen, ihre Bilder von damals hervorzuholen und zu betrachten. Das wird durch den Film „Dolce Vita Africana“ deutlich, der anlässlich der Verleihung des Goldenen Löwen der Kunstbiennale von Venedig an Malick Sidibé entstand. Er läuft im Untergeschoss im Dauerloop und man sieht Sidibé und seine Freunde, wie sie von den Mädchen sprechen, die auf den Bildern quietschvergnügt und genauso oben ohne ins Wasser springen wie die Jungs: Man könne sich gar nicht vorstellen, wie sie heute total verschleiert herumliefen.

Man selbst denkt, dass ihre Töchter nicht die geringste Ahnung von der Freiheit haben können, die ihre Mütter einst genossen und heute verdrängt haben, und das sei noch weit schlimmer als die nun neue Kleiderordnung. „Mali Twist“ ist eine große politische Ausstellung, weil sie den international zu beobachtenden Aufbruch der 1960er Jahre, als große Teile der Weltgesellschaft Faschismus, Krieg und Kolonialismus hinter sich ließen, noch einmal nachdrücklich ins Gedächtnis ruft. Mit den 1980er Jahren endete diese Bewegung, Malick Sidibé arbeitete nur noch im Atelier, machte Passbilder und reparierte Kameras. Nur so konnte er bei Aufkommen der Farbfotografie mit den entsprechenden Schnelllabors und den billigen Amateurkameras überleben.

1991 wurde der Militärmachthaber Moussa Traoré gestürzt, der den Sozialisten Modibo Keïta 1968 entmachtet hatte. Zum ersten Mal gibt es in Mali freie Wahlen und Amadou Toumani Touré wird Regierungschef (bis Traoré auch ihn 2012 entmachtet). Die Lage im Land entspannt sich und 1994 findet die erste Biennale africaine de la Photographie, die Rencontres de Bamako, statt. Ab diesem Zeitpunkt wird Sidibé der internationalen Öffentlichkeit bekannt, er erhält Ausstellungen und findet begeisterte Sammler.

Fondation Cartier, Paris, bis 25. Februar. Katalog 45 Euro