Solidarität in kaltem Wind

Knapp 1.000 Menschen demonstrierten am Samstag gegen sexuelle Gewalt, das Schweigen darüber – und das Patriarchat

Frauen und Männer demonstrieren am Samstag auf dem Hermannplatz gegen sexuelle Gewalt Foto: Steffi Loos

Von Dinah Riese

Noch bevor die erste Rednerin am Samstagnachmittag ans Mikrofon tritt, schallt die Stimme von Christina Aguilera über den Hermannplatz. „This is for my girls all around the world“, tönt es aus den Boxen auf dem zum Lauti umfunktionierten Wagen: „Who have come across a man that don’t respect your worth“. Dann meldet sich die erste Rednerin des Bündnisses #MeToo Berlin zu Wort: „Wir wollen, dass über unsere Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt gesprochen wird“, ruft sie in die Menschenmenge, die sich auf dem Platz versammelt hat. „Wir sind hier, um uns dafür den Raum zu nehmen, der uns zusteht.“

Kalter Wind pfeift, es regnet. Behandschuhte Hände halten Schilder hoch, auf denen „#MeToo“ steht, oder „Silence is Violence“ – Schweigen ist Gewalt. Die Demonstration ist eine Reaktion auf das Hashtag #MeToo, das seit mehreren Wochen die sozialen und klassischen Medien beschäftigt. Unter diesem Hashtag posten noch immer Tausende ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt – vor allem Frauen. Angestoßen wurde die Diskussion durch mehrere Frauen, die dem Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein vorwarfen, sie missbraucht zu haben.

„Diesen Protest wollten wir vom Netz auf die Straße holen“, sagt Theresa Hartmann, Sprecherin von #MeToo Berlin. Eine sehr spontane Aktion: Mit nur einer Woche Vorlauf hatte das lose Bündnis aus feministischen Aktivist*innen verschiedener Gruppen zum Protest aufgerufen. Gekommen sind knapp 1.000 Menschen, vor allem Frauen, aber auch viele Männer.

Es sind nicht nur gefällige Worte, die vom Lautsprecherwagen kommen. Denn viele der Redebeiträge sind Schilderungen von Betroffenen. „Ich wurde acht Jahre lang immer wieder vergewaltigt“, sagt eine Rednerin. „Die Täter sind trotz eines juristischen Verfahrens immer noch frei.“ Freund*innen hätten ihr geraten, sich gut zu überlegen, ob sie ihre Erfahrung öffentlich teilen wolle. „Es erinnert mich an die Diskussionen, bevor ich mir mein erstes Tattoo habe stechen lassen. ‚Das wird für immer bleiben‘, haben Leute zu mir gesagt. Auch die Opfer sexualisierter Gewalt tragen ihre Narben ein Leben lang. Und hier stehe ich, mit zahlreichen Tattoos und mit meiner Geschichte. Und ich habe es satt zu schweigen.“

Langsam zieht die Demo vom Hermannplatz durch Neukölln, Richtung Kreuzberg. Ganz vorne läuft ein Block, der Frauen, Lesben, trans* und inter* Personen vorbehalten ist. „Es sind aber auch Männer unter uns und gehen gemeinsam mit uns auf die Straße“, ruft eine Vertreterin des Bündnisses. „Und das ist auch gut so.“ Es sei wichtig, dass auch Männer für Feminismus kämpften. „Kein Mann wird scheiße geboren“, sagt die Rednerin. „Es ist diese Gesellschaft, die Männer dazu erzieht, sexistisch zu sein, Gewalt auszuüben.“ Applaus ertönt.

Ein Grußwort kommt vom Verein Tauwetter, einer Anlaufstelle für als Junge sexuell missbrauchte Männer. „Sexualisierte Gewalt lässt sich aus den herrschenden Geschlechterverhältnissen nicht herauslösen“, heißt es darin. „Als betroffene Männer stehen wir Seite an Seite mit den betroffenen Frauen – und nicht an der Seite irgendwelcher Arschlöcher.“

„Wir wollen den Protest vom Netzauf die Straße holen“

Es sei an der Zeit, die Diskussion über Sexismus und sexualisierte Gewalt aus privaten Räumen und Gesprächen heraus in die Öffentlichkeit zu holen, sagt Bündnissprecherin Hartmann der taz. „Vor allem in der parlamentarischen Politik hat das Thema bisher wenig Raum. Wenn es wie jetzt hochkocht, äußern sich ein paar Politikerinnen und Politiker – und das war’s dann. Das muss sich ändern.“

Es ist dunkel geworden, der Wind beißt. Einige Demonstrant*innen haben ihre Schilder mit Lichterketten erleuchtet. Es ist eine kleine Demonstration. Das mag der Kürze des Vorlaufs ebenso geschuldet sein wie dem Wetter.

Doch es ist ein Anfang. Und am Ende halten es die Demonstrant*innen ganz mit Christina Aguilera: „So lift up your hands high and wave ’em proud / Take a deep breath and say it out loud / Never can, never will / Can’t hold us down.“