Zurückgetretener britischer Minister: Michael Fallons Kniefall

Die Enthüllungen über sexuelle Übergriffe im Parlament von Großbritannien weiten sich aus. Das Problem betrifft alle Parteien.

Ein Bus fährt vor einem Gebäude

Was ist hier los? Das House of Parliament in London Foto: imago/imagebroker

BERLIN/LONDON taz | Es war ein Rücktritt alter Schule. Am Mittwochabend legte Großbritanniens Verteidigungsminister Michael Fallon sein Amt nieder, weil „ich den hohen Ansprüchen an unsere Streitkräfte, die ich die Ehre zu vertreten habe, in der Vergangenheit nicht gerecht geworden bin“, wie er in seinem Rücktrittsschreiben erklärte. Was er meinte, wusste jeder Zeitungsleser seit Tagen: der Vorwurf, er habe beim konservativen Jahresparteitag 2002 – damals waren die Tories in der Opposition – der Journalistin Julia Hartley-Brewer ans Knie gefasst. Selten hat ein britischer Minister aus einem auf den ersten Blick so nichtigem Anlass sein Amt verloren.

Aber der Anlass ist nicht nichtig. Fallons Rücktritt erfolgte in einem aufgeladenen politisches Klima: Der Zusammenprall einer zerstrittenen Regierung in London mit den weltweiten #MeToo-Enthüllungskampagnen über sexuelle Übergriffe im Zuge der Weinstein-Affäre in den USA.

Zu den unzähligen Frauen, die in diesem Rahmen zu männlichem Fehlverhalten befragt worden sind, gehört die Londoner Radiomoderatorin Julia Hartley-Brewer. Sie hatte nämlich 2009 im Sunday Express selbst von Übergriffigkeit berichtet – durch einen ungenannten Politiker sieben Jahre zuvor auf dem Tory-Parteitag, der ihr ungefragt ans Knie fasste und auch mehr wollte. Sie schrieb darüber ohne Namensnennung und ohne den Vorwurf sexueller Belästigung: „Er sagte, er glaube fest an die alte Westminster-Regel, dass Parteitage nicht zählen. Ich sagte, ich glaube fest daran, nicht mit den Ehemännern anderer Frauen ins Bett zu gehen.“

Am Montag fragte die Sun, Großbritanniens größte Boulevardzeitung, Michael Fallon, ob er das war. Er bestätigte. Am Dienstag prangte auf der Sun-Titelseite „Fallon: Ich fummelte mit Knie der Radiomoderatorin“ (Fallon: I Felt Radio Host’s Knee) mit der Unterzeile: „Schock-Geständnis zu Sex-Pest-Dossier, in das SECHS Kabinettsmitglieder verwickelt sind.“

Das angebliche Opfer, Julia Hartley-Brewer, reagierte verärgert: „Meine beiden Knie sind intakt“, schrieb sie auf Twitter: „Reißt euch zusammen, Leute.“ Dann schob sie eine Erklärung nach: „Ich habe von einem Minister erzählt, der während eines Parteitags-Dinners wiederholt seine Hand auf mein Knie legte. Ich erklärte ihm ruhig und höflich, dass ich ihm eine runterhaue, wenn er das noch mal macht. Er zog seine Hand zurück und die Sache war erledigt. Ich habe mit dem fraglichen Mann keinen Streit und halte den Vorfall für nichts als leicht amüsant, weshalb ich mich geweigert habe, den Mann zu nennen.“ Dies mit sexueller Belästigung geichzusetzen, sei „absurd und falsch“ und eine „Beleidigung für Opfer wirklicher sexueller Straftaten. Ich war kein Opfer und will nicht an etwas beteiligt sein, was in meinen Augen jetzt zu einer Hexenjagd geworden ist.“

„Der griff mir an den Arsch“

Denn Michael Fallons Sturz kam nicht aus heiterem Himmel. In London bleibt derzeit kaum ein Politiker von Vorwürfen sexuellen Fehlverhaltens verschont. Zunächst enthüllte die Sun die Existenz einer WhatsApp-Gruppe, auf der sich Mitarbeiterinnen von Abgeordneten gegenseitig vor ihren Chefs warnen. „Mit dem kann man nicht Taxi fahren“, „Der ist handgreiflich“, „Der griff mir an den Arsch,“ „Der trinkt im Übermaß“, steht da. Geschildert werden Abgeordnete, die ihre Mitarbeiterin auffordern, ihren Penis zu berühren oder die ihren eigenen Kopf ungefragt zwischen die Brüste ihrer Angestellten stecken.

Als nächstes bekam das Blatt eine Excel-Tabelle der Tory-Parteizentrale zugespielt, mit 44 Namen und dazugehörigen Einzelheiten des Sexuallebens. Die prominentesten Namen auf der Liste: Kabinettschef Damian Green, Theresa Mays engster Vertrauter; Innenministerin Amber Rudd, mögliche May-Nachfolgerin; und eben Verteidigungsminister Fallon, Großbritanniens dienstältester Minister.

Mark Garnier, Staatssekretär im Handelsministerium, gab inzwischen zu, seine Sekretärin, die er angeblich „Zuckertitte“ nannte, in einen Sexshop geschickt zu haben, um dort einen Vibrator zu kaufen, „für seine Frau und eine andere Dame“, heißt es. Aber viele der angeführten Vorwürfe waren viel milder – alles, was einer Person des öffentlichen Lebens schaden kann, auch einfache Seitensprünge. Dennoch machte die Sun aus der Liste ein „Sex Pest Dossier“ und ging damit hausieren. Fallon ist das erste Opfer.

Nicht nur die Sun wurde mit schlüpfrigen Enthüllungen bedient. Vergangene Woche suspendierte die Labour-Opposition ihren erst im Juni gewählten 35-jähriger Abgeordneten Jared O’Mara, nachdem ein konservativer Blogger eine lange Liste seiner frauenfeindlichen, homophoben und ausländerfeindlicher Sprüche aus seiner Studentenzeit veröffentlicht hatte. Am Mittwoch beherrschte die Enthüllung einer jungen Labour-Mitarbeiterin, sie sei als 19-Jährige auf einer Parteiveranstaltung vergewaltigt worden und ein Parteimitarbeiter habe ihr Stillschweigen geraten, die Schlagzeilen mehrerer Zeitungen.

Am Mittwoch kündigte Andrea Leadsom, die konservative Geschäftsführerin des Unterhauses, in Vertretung Mays die Schaffung einer unabhängigen Untersuchungsstelle für Mitarbeiter des Parlaments an, an die sich Geschädigte vertraulich wenden sollen. Doch dabei blieb es nicht. Nach einem BBC-Bericht suchten am Mittwoch mehrere Frauen das Büro der Premierministerin mit Geschichten über „unangemessenes Verhalten“ Fallons auf. Manchen Berichten zufolge konnte der 65-jährige Minister, dem auch ein Hang zum Alkohol nachgesagt wird, am Nachmittag gegenüber May nicht garantieren, dass es keine weiteren Geschichten mit Journalistinnen gäbe. Damit war er seinen Job los. Die Pfarrerstochter May ist wenig tolerant gegenüber Fehlverhalten in ihrem Umfeld.

Neuer Verteidigungsminister wurde am Donnerstag der bisherigen Tory-Fraktionschef Gavin Williamson. Der 41-Jährige, der Abgeordnete gerne mit seiner als Haustier gehaltenen Tarantel erschreckte, gilt als skrupellos und ehrgeizig im Stile eines Emmanuel Macron. Ist das ein Signal für die Zukunft? Manche Kommentatoren wittern jetzt schon den Beginn des Zerfalls der Regierung May.

In Reaktion auf Fallons Rücktritt tönte das Boulevardblatt „Sun“ zunächst, er sei das erste Opfer, aber nicht das letzte

Die Sun hat zuletzt Mays Regierung mehrfach als zu wankelmütig kritisiert, von der Familienpolitik bis zum Brexit. Schießt das schwerste Geschütz im britischen Blätterwald, gerne von ihrem Besitzer Rupert Murdoch als treffsichere politische Waffe vom rechten Rand missbraucht, die Premierministerin jetzt sturmreif? In Reaktion auf Fallons Rücktritt tönte das Blatt zunächst, Fallon sei „das erste Opfer, aber nicht das letzte“. Im Laufe des Donnerstags drehte das Blatt seinen Ton von Triumphgeheul zu Understatement: Fallons Rücktritt sei „ein Problem für eine fragile Regierung“.

Das Problem geht aber weit über die Regierung hinaus und auch über Fallons Abgang. Großbritanniens politisches System insgesamt hat ein Problem mit sexueller Belästigung. Es geht dabei nicht bloß um regelmäßig wiederkehrende Sexskandale, die schon die Regierung des glücklosen konservativen Premiers John Major in den 1990er Jahren heimsuchten und in den letzten Jahren sowohl Tory- als auch Labour-Nachwuchspolitiker zu Fall gebracht haben.

Über Gewalt sprechen

Es geht auch um Vermutungen, dass sexuelle Übergriffe vertuscht werden. Dass der bekannte BBC-TV-Journalist Jimmy Savile jahrzehntelang Kinder missbrauchte, flog erst nach seinem Tod 2011 auf – daraufhin setzte Theresa May, damals Innenministerin, einen Untersuchungssausschuss zu historischen Sexualverbrechen ein, dessen Arbeit immer noch läuft. Während einer parlamentarischen Debatte vor wenigen Tagen behauptete die Labour-Abgeordnete Lisa Nandy, dass es in allen Parteien Personen gebe, die mutmaßlichen Tätern in den eigenen Reihen mit Rat und Tat zur Seite stünden – dies müsse ein Ende haben.

Ausschlaggebend in den Institutionen sind die Machtverhältnisse, sagt Jane MacLead vom schottischen Women’s Support Project für Opfer sexueller Gewalt: die Angst von den Betroffenen, über das ihnen Widerfahrene zu sprechen. Einen Impuls zu einer offeneren politischen Kultur bot die Ermordung der Labour-Abgeordneten Jo Cox durch einen Rechtsextremisten wenige Tage vor dem Brexit-Referendum 2016. Mehrere Frauen im Parlament machten daraufhin Gewaltandrohungen gegen sie öffentlich.

Nächstes Jahr jährt sich die Einführung des Frauenwahlrechts in Großbritannien zum hundertsten Mal. Sam Smethers, Geschäftsführerin der 1866 gegründeten Fawcett Society, die das Jubiläum feiern wird, sagt, sexuelle Belästigung werde bis heute überall in der Gesellschaft toleriert, nicht nur in den Korridoren Westminsters. „Politische Parteien müssen sich reformieren, um Frauen in die Politik aufzunehmen, statt sie zum Schweigen zu bringen.“

Für Sarah Green, Co-Direktorin der End Violence Against Women Coalition, sind die Entwicklungen der letzten Tage Teil der neuen weltweiten Bewegung der letzten Wochen. Das hätte vielen Frauen den Mut gegeben, zu sprechen – „ein Trend, der nicht mehr zu stoppen ist“. Sie erhofft sich davon gesellschaftliche Veränderung. Die wachsende Präsenz von Frauen in der Politik verändere die politische Kultur, auch weil sie Männer dazu bringe, sich mit solchen Themen zu beschäftigen. „Wenn es um Gewalt gegen Frauen geht, sind die Reihen in den Parlamenten leer“, moniert sie. Aber nun könne sich das Klima verändern.

Green warnt davor, die jüngsten Enthüllungen als spezifisch britisches Problem abzutun. In Großbritannien würden 15 Prozent aller Sexualvergehen offiziell aufgenommen – in Deutschland nur um die fünf Prozent. „Ich frage mich, wie es sein kann, dass wir in diesen reichen Ländern des angeblichen Fortschritts noch über Probleme dieser Art sprechen müssen.“

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