Filme ziehen vorbei

Der 60. Jahrgang des Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm, „DOK Leipzig“, bot Bilder, die manchmal sprachlos machten

Existenzieller Lebensentwurf: „Soviet Hippies“ von Terje Toomistu Foto: DOK Leipzig

Von Detlef Kuhlbrodt

Im Trailer des 60. Jahrgangs des Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm, schüttelt sich ein nasser Hund am Strand mit gegenläufigen Bewegungen. „Shake it.“

Der Eröffnungsfilm, „Betrug“ von David Spaeth, spielt im Schwabinger Kindergartenmilieu und ist eine seltsam-komische Abhandlung über die feinen Unterschiede. Der 23 Minuten lange Debütfilm „An Unforgettable Farewell“ von Claudio Oliveira Marques handelt von Selbstmord. Die beste Freundin des niederländischen Filmemachers hat sich das Leben genommen.

Mit seinem Film versucht er, den Schock zu verarbeiten. Von einem Hochhaus aus sieht man die vernebelte Stadt, hört die bebende Stimme des Filmemachers. Es gibt Gespräche mit Angehörigen anderer Selbstmörder, in denen man sich wiedererkennt; doch hat man das Gefühl, der junge Regisseur habe seinen Film zu früh gedreht, ihm fehle die Distanz. Selbstmorde begleiten einen ein Leben lang.

Der rumänische Film „Licu“ von Ana Dumitrescu, der mit der Goldenen Taube ausgezeichnet wurde, taucht ganz klassisch und schwarz-weiß in die rumänische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Der 92-jährige Held des Films erzählt der Regisseurin sein Leben: Weltkrieg, Vertreibung aus der Bukowina, Industrialisierung unter Ceaușescu, die ambivalente Revolution. Die Gespräche führen sie in seiner organisch gewachsenen Wohnung. Das Leben ist mal so, mal so, und am Ende sagt der Held: „I’m a lost soul in nothingness.“

Trips mit Asthmazigaretten

In Gedanken geht man so oft den langen Weg über viele Rolltreppen, um zu rauchen. Die Filme sprechen mit einem. Die estnisch-deutsch-finnische Koproduktion „Soviet Hippies“ von Terje Toomistu hatte man gleich als Freund begrüßt. Es ist ja so bezeichnend, dass es tausend Filme über die RAF gibt, aber nur wenige über die pazifistischen Hippies, die die Beatles verehrten, ohne ihre Worte zu verstehen; die mit aufgebrühten Asthmazigaretten auf Trips gingen und cool aussahen und oft tatsächlich outside of the ­society lebten. Der Hippielebensentwurf war existenziell, überall in der ehemaligen SU gab es Stützpunkte.

In „Wildes Herz“ porträtieren Charly Hübner und Sebastian Schultz die mecklenburg-vorpommersche Punkband Feine Sahne Fischfilet und vor allem den Sänger der Band, Jan „Mochi“ Gorkow. Der energische Sänger, der als Teenager Ultrafan von Hansa Rostock war und viel Quatsch gemacht hatte, ist bodenständig, humorvoll. Seine Band setzt sich gegen Nazis ein und wurde eine Weile vom Verfassungsschutz beobachtet. Der Film bringt viele unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche zusammen. Dass „Wildes Herz“ gleich vier Preise erhielt, hat eventuell auch damit zu tun, dass sein Gegenstück, „Montags in Dresden“, das Por­trät dreier Pegida-Anhänger, unnötig skandalisiert worden war.

„The Poetess“ von Andreas Wolff und Stefanie Brockhaus erzählt von der saudischen Dich­terin Hissa Hilal, die ganzkörperverschleiert an der Fernsehshow „Million’s Poet“, einem Dichterwettstreit, teilnahm und überraschend bis ins Finale der Sendung kam, wo sie als Drittplatzierte umgerechnet 700.000 Euro gewann. In ihren Gedichten wandte sie sich gegen religiöse Extremisten und wurde von westlichen Medien gefeiert. Schade, dass die RegisseurInnen bei der Aufführung nicht anwesend waren.

In „Sandmädchen“ porträtiert Mark Michel die Autistin Veronika Raila, die seit ihrer Geburt vollständig auf die Hilfe anderer angewiesen ist. Als Kind attestierte man der hypersensiblen Frau einen IQ von null. Mithilfe ihrer Eltern konnte sie die Schule absolvieren. Heute veröffentlicht sie, die auch Co-Autorin des schönen Films ist, Prosa und Lyrik, studiert katholische Theologie und Literatur.

Die Filme ziehen vorbei. Gebannt starrt man auf die teils mit Handy gefilmten Bilder des vielschichtigen 150 Minuten langen portugiesischen Films „Raw“ von Carlos Ruiz Carmona. Man sieht Junkies, wie sie sich vergiften; Medizinstudenten, die an Leichen üben, am Anfang eine Sexszene, am Ende eine schwere Geburt. Die unkommentierten Bilder, die der Regisseur in zehn Jahren gesammelt hat, sind distanziert und intim zugleich. Danach ist man eine Weile sprachlos.

Eine andere filmische Reise unternimmt „The Strange Sound of Happiness“ von ­Diego Pascal Panarello. Am Anfang ist der italienische Regisseur aus seiner Welt gefallen; die Freundin hat ihn verlassen. Als gescheiterter Musiker kehrt er zurück in seine sizilianische Heimatstadt. Die Geschichte beginnt, als ihm im Traum das Bild einer Maultrommel erscheint. Der psychedelische, zikadengleiche Sound der Marranzano durchzieht den wunderbaren Film und führt den Regisseur bis nach Jakutien, wo die Maultrommel „Khomus“ heißt, wo es ein Khomus-Museum gibt und wo der berühmteste Maultrommler der Welt wohnt. Mehrere Monate verbringt er in Jakutien, bis er initiiert wird und mit einheimischen Khomusspielern auftritt. Ein bisschen erinnert der Film an „1001 Nacht“, nur dass der Erzähler die Geschichte, mit der er sich rettet, sich selbst erzählt und zugleich lebt.