Alles ist Komposition

Der afroamerikanische Drummer und Komponist Tyshawn Sorey ist der erste Artist in Residence des nun gestarteten Jazzfests Berlin

Multiinstrumentalist Tyshawn Sorey an der Schießbude Foto: John Rodgers

Von Steffen Greiner

„Ich bin so froh, dass ich kein Genie bin. Ich will doch immer etwas Neues lernen!“ Man stellt sich ja automatisch diesen Bär von Mann vor, wie es ihn schütteln muss, das Lachen, das Tyshawn Sorey immer wieder loslässt, durch das Telefon, laut und herzlich.

Der Genieverdacht haftet Sorey an wie zurzeit nur wenigen jüngeren Musikern. Der 37-Jährige leitet nicht nur ein Trio, dessen letzte Alben euphorisch besprochen wurden, er agiert auch in den Grenzgebieten von Jazz. Dort, wo die Musik Neue Musik wird, oder wo sie, wie auf seinem Album „The Inner Spectrum of Variables“ von 2015 – aufgenommen beinahe in Kammermusikbesetzung – mit den Traditionen der klassischen Musik spielt. Und das als Drummer, eine Rolle, die in der populären Vorstellung nicht unbedingt mit einer Intellektualität verbunden wird, wie sie Sorey ausstrahlt. Der Schlagzeuger leitet seine Gruppe mit Whiteboard-Zeichen und großem Gestenrepertoire durch Musik, die wirkt wie eine schroffe Landschaft durch die Augen eines romantischen Malers, kalt, dramatisch, weit, nicht gerade jazzy. Auch hier: Grenzen. Und wie sie zu überschreiten sind.

Eine der klassischen musikalischen Grenzen aber ist für Sorey gar keine: die zwischen Komposition und Improvisation. „Versimilitude“, das letzte Album des Trios, klingt wie ein einziger fließender Übergang. „Alles ist Komposition. Ob etwas geplant oder spontan komponiert ist, das ist der ganze Unterschied, aber eigentlich ist es keiner. Komposition, um die traditionellen Begriffe zu verwenden, ist verlangsamte Improvisation und Improvisation ist für mich beschleunigte Komposition.“

Das sagt Sorey nicht nur als Drummer oder Multiinstrumentalist – sein erstes Studium war das der Posaune –, sondern auch als neuer Musik-Professor an der liberalen Wesleyan University in Connecticut, wo er erst vor Kurzem seinem Mentor, dem Komponisten und Saxofonisten Anthony Braxton, nachfolgte.

Braxton begründete in den 1960er Jahren die Association for the Advancement of Creative Musicians, eine Vereinigung zur Förderung schwarzer Free-Jazz-Musiker, in deren Tradition Sorey heute seine Arbeit sieht. Weil er mit Konzepten arbeitet, die ihm liegen – unabhängig davon, ob ihm vermittelt wird, er gebrauche sie falsch. Stichwort Grenzen: „Das Stereotyp des schwarzen Entertainers existiert noch immer, Schwarze sollen nach wie vor unterhaltsam sein. Wenn ich mit meinem Trio spiele, merke ich das nicht, es wird verstanden, dass ich die Tradition des Klaviertrios aufgreife und etwas Interessantes damit mache, etwas Persönliches“, sagt Sorey. „Aber wenn ich Kunst aus einer akademischen Perspektive mache, wenn ich als Schwarzer versuche, die Grenzen, die uns auferlegt sind, die uns sagen, wir könnten nur Jazz machen, zu durchbrechen, wird das beschwiegen.“

Als Sorey im letzten Jahr seine Oper „Josephine Baker: A Personal Portrait“ vorstellte, mit der er seinen Doktorgrad der Komposition an der Columbia University erlangte, warfen ihm überwiegend weiße Kritiker vor, das Wesen der Künstlerin und Bürgerrechtlerin missverstanden zu haben. „Weil ich dieses weiße Publikum nicht unterhalten habe, soll mein Werk überintellektuell gewesen sein, es hätte zu sehr den weißen Modernismus zitiert. Ein weißer Komponist wäre nie dafür belangt worden, Elemente der nordindischen oder der kongolesischen Kultur in die Musik aufgenommen zu haben“, sagt Sorey verärgert. „Von Schwarzen, die über die Grenzen dessen hinausgehen, was schwarze Musik sein darf, heißt es hingegen, sie produzierten musikalische Bastardkinder. Das ist eine üble Schande.“

Das Publikum des Berliner Jazzfests, dessen eigene enge Grenzziehungen im letzten Jahr durch das Niederbuhen der experimentellen Indie-Musikerin Julia Holter auf der Bühne der Berliner Festspiele deutlich wurde, wird Tyshawn Sorey im November als ersten Artist in Residence in der Geschichte des Festivals erleben. Viermal ist er dort zu hören: Neben einem Konzert mit seinem eigenen Trio tritt er im Duo mit dem Saxofonisten Gebhard Ullmann und als Teil eines Trios um die Saxofonistin Angelika Niescier auf. Und dann noch in einem Format, das Soreys In-Eins-Denken von Improvisation und Komposition gut auf den Punkt bringt: In einer Mischung aus Lawrence ‚Butch‘ Morris’Methode der ‚Conduction‘ und seiner eigenen Methodik, Improvisationen anzuleiten, wird er dort gemeinsam mit 22 Berliner Musikern spielen.

„Das Stereotyp des schwarzen Entertainers existiert noch immer“

Tyshawn Sorey

„In allen Sprachen“ heißt das Motto des diesjährigen Jazzfests. Es ist das Letzte unter der Leitung von Richard Williams, und tatsächlich bringt es einige Neuerungen ein. Während die Artist-in-Residence-Position sicher der 54. Ausgabe musikalisch einen Stempel aufdrückt, wird es vor allem die Verlagerung einiger Konzerte vom gutbürgerlichen Wilmersdorf nach Kreuzberg sein, das die Stimmung verändert.

Dort, im Lido, spielt am ersten Abend mit Shabaka Hutchings einer der wichtigsten jungen Jazzmusiker Großbritanniens mit seiner Gruppe Shabaka and the Ancestors, die Jazz und afrikanische Musiksprachen neu verkoppelt, während zuvor Heroes Are Gang Leaders versuchen, den Geist des Happenings zu beleben mit einer afro­futuristischen Performance zwischen Spoken Words, Jazz und HipHop. Auch Steve Lehman, der regelmäßig mit Tyshawn Sorey zusammenarbeitet, operiert nah am HipHop mit seinem Projekt Sélébéyone. Dieses featuret MCs, die auf Englisch und in Wolof, einer Niger-Kongo-Sprache, rappen. Amirtha Kidambi hingegen bringt mit ihrer Gruppe Elder Ones Jazz-Improvisation und südindische Stile zusammen.

„Ich mag natürlich das Unvorhersehbare“, sagt Sorey, „aber mich reizt mehr, dass ich immer schon weiß, wo ich die Musik als nächstes hinführe, wo ich rauskommen will.“ So kontrolliert wie bei Tyshawn Sorey wurden sicher selten Grenzen einfach fließend übergangen. Ob das dem Jazzfest in diesem Jahr gelingt? Es wäre erfreulich.

Tyshawn Sorey live: mit Trio am 2. 11.; als Drummer für die Saxofonisten Angelika Niescier und Gebhard Ullmann am 3. 11.; zum Abschlusskonzert am 5. 11. spielt Sorey mit einem 20-köpfigen Ensemble. Alle Konzerte im Haus der Berliner Festspiele