Männer mit schlechtem Ruf

Er gründete eine Selbsthilfegruppe für türkische Männer, ist großer Bruder und inoffizieller Bürgermeister von Neukölln. Sonja Hartwig hat Kazım Erdoğan fünf Jahre begleitet

Sonja Hartwig: „Kazım, wie schaffen wir das? Kazım Erdoğan und seine türkische Männer- gruppe – vom Zusammen-leben in Deutschland“. DVA, München 2017, 240 Seiten, 18 Euro

Von Philipp Daum

Sonja Hartwig hat ein Buch über ein unspektakuläres Thema geschrieben. Sagt sie selbst: Es geht hier um Männer, die in einem Raum sitzen. Sie sitzen da, jeden Montag, trinken Tee und reden. Sonst passiert nichts.

Die Männer reden über Heimat, zu Hause, lächelnde türkische Zollbeamte, schlecht gelaunte deutsche Zollbeamte, Wunden, vom Fremdgehen, von den Schlägen ihrer Eltern, vom Zuschlagen.

In ihrer Mitte redet Kazım Erdoğan. Erdoğan, der 1974 am Bahnhof in München ankam und so lange suchte, bis er einen Schnauzbärtigen gefunden hatte, der Türkisch konnte und ihm den Zug nach Westberlin zeigte. Erdoğan, der beinahe abgeschoben wurde, Psychologie studierte, als Lehrer arbeitete, als Psychologe für den Bezirk Neukölln, und später ein Bundesverdienstkreuz bekam.

Eines Tages begann er sich zu fragen, warum zur Familienberatung immer nur türkische Frauen kamen, aber keine Männer. Wo waren diese Männer? Auf Schicht, in Cafés, beim Kartenspielen, in Spielhallen. Also gründete Erdoğan eine Selbsthilfegruppe für türkische Männer in Berlin: „Männer, die ein Pauschalabo als Proleten hatten: Produzenten häuslicher Gewalt, Holzklötze Anatoliens am Fließband übler Taten. Kazım hatte sie eingeladen, damit sie daran arbeiten, den schlechtesten Ruf aller Zeiten zu verlieren.“

„Meine Bitte ist, dass Sie sich einmischen. Jeder von uns kann ein Minibrötchen backen“

Kazım Erdoğan

Es gibt fantastische Geschichten in diesem Buch. Etwa die von Tarkan, Ende zwanzig, der mit vollem Namen Tarkan Bruce Lohde heißt, Tarkan wegen seines Vaters, Bruce wegen Bruce Lee und Lohde wegen seiner Mutter, und von dem wir erfahren, wie Tarkans deutscher Onkel Thomas, der mit ihm die Liebe zu chinesischer Kampfkunst teilt, ihn einmal aus pädagogischen Gründen in die Spree warf.

Hartwig hat den Gesprächen der Männergruppe viel Raum in ihrem Buch gegeben. Dazu kommen Episoden aus dem Leben der Protagonisten und immer wieder Abschnitte über Kazım Erdoğan, den Hartwig über die Strecke des Buches erfolgreich entschlüsselt. Ein typischer Kazım-Satz, gesprochen bei einer Festrede zu einer Einbürgerungsfeier, geht so: „Meine Bitte ist, dass Sie sich einmischen. Jeder von uns kann ein Minibrötchen backen.“

Manchmal denkt man beim Lesen: Das sind alles super selbstverständliche Dinge. Sich einmischen. Miteinander reden, einander zuhören. Völlig selbstverständlich. Aber Anfang der nuller Jahre gab es in der gesamten Neuköllner Verwaltung nur zwei Mitarbeiter mit Migrationshintergrund. In der Familienberatungsstelle gab es einen, den alle für einen Türken hielten, dabei war er kein Türke, sondern Iraner. Er habe sich zwar nie als Türke vorgestellt, lässt sich Hartwig vom damaligen Leiter erzählen, aber auch nie widersprochen, als man ihn als Türke bezeichnete. Die Moral dieser etwas umständlichen Geschichte: „Die Verantwortlichen stellten jemanden ein, der nicht in Deutschland aufgewachsen war, damit er sich um alle kümmere, die auch nicht in Deutschland aufgewachsen waren. Der Türke war somit ein Mitarbeiter für das gute Gewissen, eine Ausrede, Wir-müssen-uns-nicht-mehr-kümmern.“

Selbstironisch ist Kazım Erdoğan auch, er nennt sich „Kalif von Neukölln“ Foto: Anja Weber

Es ist jetzt nicht so, dass es in diesem Buch definitive Antworten gibt: Wie gelingt Ankommen? Was muss man tun, damit Geflüchtete und Daheimgebliebene zueinander finden? Nur eines ist wirklich eindeutig: Es wurde viel zu viel übereinander und, ganz eindeutig, viel zu wenig miteinander geredet.

Jeder, der sich fragt, ob man mit besorgten Bürgern, der AfD, der AKP oder sonst wem reden dürfe, oder ob man dadurch etwas aufwerte oder irgendetwas Unwünschenswertem zu viel Raum gebe, jeder Apologet des Gesprächsabbruchs also, sollte dieses Buch lesen: Hier sprechen Atheisten mit Gläubigen, Kurden mit Türken, Nationalisten mit Linken, Schläger mit Friedfertigen, die ganze türkische Männergruppe mit Thilo Sarrazin.

Miteinander reden. Das mag eine simple Lektion sein, aber man hat sie selten so schön vorgeführt bekommen wie in diesem Buch. Kazım Erdoğan sagt zu seiner Gruppe, ganz zu Beginn des Buches: Sprecht frei, sprecht ohne Angst. Es ist nicht so, dass nur Neukölln darin Nachhilfe bräuchte.