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: Spurlos verschwundene Freund*innen

Kerem Schamberger berichtet bei Facebook kritisch über die Türkei und verliert seit Wochen Tausende Abonnent*innen. Eine Begründung hat das Unternehmen dafür keine

Seit 53 Tagen dokumentiert Schamberger seinen Abonnent*innenverlust auf Facebook. Der 31-jährige Kommunikationswissenschaftler teilt täglich Nachrichten über die politische Lage in der Türkei und weist vor allem auf Menschenrechtsverletzungen hin. Das stößt auf Interesse, etwa 20.600 Menschen hatten seine Seite noch vor einiger Zeit abonniert. Doch in den vergangenen zwei Monaten sind etwa 5.000 dieser Interessierten verloren gegangen. Und das nicht zufällig, ist Schamberger überzeugt.

Die Menschen interessierten sich nun mal nicht mehr so für die Türkei, habe ein Pressesprecher von Facebook ihm zur Erklärung gesagt, berichtet Schamberger. Die Nutzer*innen hätten ihre Abonnements wohl freiwillig gekündigt. Auch sei es möglich, dass doppelt angelegte oder Fake-Profile gelöscht worden seien. Beide Erklärungen sind unwahrscheinlich; denn inzwischen melden sich immer mehr Facebook-Nutzer*innen bei Schamberger und berichten, ihre Abonnements seien ohne ihre Kenntnis gekündigt worden.

Einer von ihnen ist Mehmet Şahin aus Österreich. Es klingt wie eine abstruse Verschwörungstheorie: Şahins Abo von Schambergers Seite sei verschwunden, berichtet er gegenüber der taz, dafür habe er plötzlich die Facebook-Seite von ÖVP-Chef Sebastian Kurz abonniert. Ein anderer Nutzer, Hüseyin Gökçen, berichtet: „Wir wurden einfach entfreundet. Weder ich noch er wussten davon.“

Beide haben Schamberger erneut abonniert – die Einschätzung des Pressesprechers, dass sie selbst sich aus mangelndem Interesse abgewandt haben, scheint also ungenügend.„Inzwischen halte ich es für einen bewussten Prozess, dass die Reichweite türkeikritischer Nachrichten von Facebook begrenzt wird, und das unter dem Deckmantel des Kampfes gegen Fake-News“, sagt Schamberger der taz. Schamberger hat bei Facebook eine Übersicht seiner Daten angefordert – seit zehn Tagen geschieht nichts. Das Team des Blogs Netzpolitik.org, das auch über den Fall berichtet hat, hat diese Daten testweise für seine eigenen Accounts angefordert – das habe jeweils maximal 14 Minuten gedauert.

Kein Einzelfall

2016 berichtete der britische Guardian, die Facebook-Seite des Londoner Sachbuchverlags ZED Books sei gelöscht worden, nachdem der Verlag türkeikritische Artikel veröffentlicht und Posts über die Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) gepostet hätte. Facebook hatte jedoch die Vorwürfe zurückgewiesen. Auch im Fall von Schamberger versicherte ein Pressesprecher dem Betroffenen gegenüber, dass Facebook ihn nicht zensiere.Doch wer steckt dann dahinter?

In Berlin operiert ein Löschzentrum von Facebook, das von dem Bertelsmann-Unternehmen Arvato betrieben wird. Ob die Mitarbeiterinnen technisch dazu in der Lage wären, solche Maßnahmen durchzuführen, ist unklar. Auf Nachfrage erklärt Facebook das grundlose VERSCHWINDEN von Abonnent*innen sei unerklärlich.

Aktuelle Untersuchungen hätten bisher keine technischen Fehler gezeigt, hatte ein Facebook-Sprecher Schamberger versichert. Man werde ihn weiter auf dem Laufenden halten. Eine Antwort, die Schamberger nicht zufriedenstellt. Solange es keine bessere Erklärung gibt, werden er und viele andere weiter vermuten, dass es sich um eine gezielte Kampagne gegen Türkeikritiker*innen handelt. Sollte dem nicht so sein, hätte Facebook ein wirksames Mittel, um Skeptiker*innen zu überzeugen: mehr Transparenz. sisi