Divergierende Nuancen

Das inklusive Theaterfestival No Limits, das zum achten Mal in Berlin stattfindet, zeigt auch: KünstlerInnen mit Behinderung nehmen immer mehr kreative Entscheiderpositionen ein

„Der Tag, an dem Kennedy ermordet wurde und Mimi Kennedy Präsidentin wurde“ Foto: Christian Martin

Von Katja Kollmann

Langsam bohren sich von hinten acht große Löcher in die Pappwände auf der Bühne des HAU 1. Ein Arm nach dem anderen wandert heraus, und die Hände beginnen zu reden. Zuerst wird gezählt in vier Sprachen, und da fallen schon kleine Differenzen zwischen den jeweiligen Gebärdensprachen ins Auge. Irgendwann kommt die scheinbar willkürliche Begriffsaufzählung zum Wort „Sex“ in Endlosschleife. Die vier Handpaare finden immer wieder neu ein Bild mit einer divergierenden Nuance, um das klischeehaft besetzte Wort neu zu illustrieren – etwa das Übereinanderlegen der Hände in einer Wellenbewegung.

Hatte der nicht gehörlose Zuschauer bis zur Definition von „Sex“ den Eindruck, dass den Begriffen eine eindeutige Handbewegung zuzuordnen ist, bekommt er nun eine Ahnung von den faszinierenden Möglichkeiten einer Kommunikation, die ohne Stimme auskommen muss. „Jeden Gest“ – „Eine Geste“ nennt das Nowy Teatr aus Warschau die Inszenierung. Vier gehörlose Frauen und Männer entwickeln unter der Regie von Wojtek Ziemilski eine beeindruckende Bühnenpräsenz. So ist dieses polnische Gastspiel ein mehr als gelungener Auftakt des inklusiven Theaterfestivals „No Limits“, das zum achten Mal stattfindet.

Witzige Dialoge

In der Hamburger Inszenierung „Der Tag, an dem Kennedy ermordet wurde und Mimmi Kennedy Präsidentin wurde“ spielen zwei Barbiepuppen mit – eine ist die Ideenstifterin des Attentats und die andere die Ausführende. Dennis Seidel von „Meine Damen und Herren“ hat sich die Aufzeichnungen von der Ermordung des amerikanischen Präsidenten am 22. November 1963 sehr genau angesehen. Er ist bei dieser Uraufführung, die im Theater Thikwa stattfindet, Autor, Regisseur und Hauptdarsteller in Personalunion. Als Autor lässt er seiner Fantasie freien Lauf und ermächtigt vor allem Frauen, indem er sie zu Akteurinnen – in diesem Fall zur Mörderin und zur Präsidentin – macht. Er selbst spielt mit platinblonder Perücke Liv Split, eine Reporterin, die das Attentat vom Fenster aus beobachtet.

Die einzige Männerfigur im Stück ist der Erzähler, der durch die Szenen führt. Drei Schauspielerinnen stellen verschiedene Frauen – unter anderem Jackie Kennedy – dar, die in Dallas die Täterin suchen. Das Stück lebt von den Begegnungen dieser Figuren und dem Versuch der Kommunikation. So kommt es oft zu witzigen Dialogen und am Ende zu einem sehr berührenden Moment. Was zuerst wie eine Nebenhandlung erscheint, die Wiederbegegnung Liv Splits mit ihrer verlorenen Schwester, wird zum zentralen Ereignis.

Nach „Ordinary Girl“, seiner vor zwei Jahren bei „No Limits“ bejubelten Soloperformance, ist dies die zweite Regiearbeit des Künstlers mit geistiger Behinderung. Und so steht Dennis Seidel programmatisch für eine wichtige Entwicklung im integrativen Theater: KünstlerInnen mit Behinderung nehmen immer mehr Entscheiderpositionen ein. Herausragend: das Berliner Theater Ramba Zamba, das seit einigen Monaten von Jacob Höhne, einem Künstler mit Trisomie 21, geleitet wird.

Nach 180 Gastspielen in über zwanzig Ländern kommt Jérôme Bel mit seiner 2013 zum Berliner Theatertreffen eingeladenen Inszenierung „Disabled Theater“ ins HAU 1 zurück und feiert morgen im Rahmen von No Limits mit den Darstellern des Züricher Theaters Hora endgültig die Dernière. „Disabled Theater“ ist Selbstreflexion der DarstellerInnen, eingebettet in eine sehr gute Dramaturgie. Wojtek Ziemilski vom Nowy Theatr arbeitet mit demselben Ansatz, und so lassen beide Inszenierungen einen erkenntnisreichen Blick in die Innenwelt von Menschen mit Behinderung zu.

Frauen ermächtigt er zu Akteurinnen – in diesem Fall zur Mörderin und zur Präsidentin

Die verknallte Dame

Das Theater Hora kooperiert auch mit dem Berliner Figurentheater „Das Helmi“. So kommt es übermorgen zu dem „Besuch der verknallten Dame“ im Ballhaus Ost. Angelehnt an den Bühnenklassiker von Friedrich Dürrenmatt kehrt auch hier eine mordlustige schwerreiche Dame in ihr Heimatdorf zurück. Mit den schrägen Schaumstoffpuppen des „Helmi“ wird ihr Rachefeldzug zu einem schrillen, schnellen Showdown werden, bei dem einem wahrscheinlich das Lachen im Hals stecken bleibt.

Am Freitag trifft man am selben Ort Fred. Fred ist eine Puppe, hinter der zwei britische Theaterkollektive stehen: das inklusive „Hjinx Theatre“ aus Cardiff und das Figurentheater „Blind Summit“ aus London. Gemeinsam legen sie dieser Puppe die wirklich wichtigen W-Fragen in den Mund, z. B. „Wer bin ich?“ oder „Wer würde ich gerne sein?“. Zum Ende des Festivals gibt es musikalische Anarchie für alle. Freds Freunde singen.