Verdrängt und wieder da

Ein Buch über die Heimat, dieses so lange so argwöhnisch beäugte Ding? Damit liegt der Journalist Christian Schüle voll im Trend. Jetzt ist er damit in Hamburg zu Gast

Manchmal muss es Reetdach sein: Dieses Bild malte Emil Nolde 1901, zu sehen ist es derzeit in der Kunsthalle Kiel. Ach ja, der Titel: „Heimat“ Foto: Carsten Rehder/dpa

Von Alexander Diehl

Vom Phantomschmerz spricht man in medizinischem Zusammenhang, wenn etwas weh tut, das gar nicht mehr da ist, nach Amputationen etwa. Wenn der Publizist Christian Schüle ein Buch so untertitelt, „Ein Phantomschmerz“, das im Titel die „Heimat“ trägt, dann wird das vielen einleuchten: Heimat – die ist uns postpostmodernen Menschen, mit dem cloudbasiert mobilen Lebenswandel doch lange zur abstrakten Größe zusammengeschrumpelt, oder nicht?

Ja und nein: Man muss sich schon anstrengen in diesen Tagen, um nicht darauf zu stoßen, dass sie, wie so vieles Vernachlässigte, plötzlich wieder da sei, diese merkwürdige Sache namens Heimat. Viel Aufsehen erregte Anfang vergangenen Monats natürlich Bundespräsident Steinmeier mit seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit: Da warb das Staatsoberhaupt unter anderem dafür, „Heimat“ gerade nicht den Falschen zu überlassen, was freilich stark nach dem klingt, was in der jüngeren Vergangenheit auch über den Patriotismus zu hören war.

Aber schon vor über einem Jahr brachte der Deutschlandfunk eine Reihe von Sendungen zur „Wiederkehr einer Idee“ – Sie ahnen schon, welche das ist. Da kamen allerlei Menschen zu Wort, denkende, forschende, schreibende, und umkreisten diese so schlüpfrige Größe, darunter auch Daniel Schreiber, der selbst lange an einem Buch mit dem Arbeitstitel „Heimat“ gesessen hatte – das am Ende aber, etwas weniger befrachtet, „Zuhause“ hieß. Und gerade erst, in der jetzt zu Ende gegangenen Woche, konnte man im erwähnten Sender schon wieder an eine Berichterstattung geraten über eine „neue Lust“ – erst mal nur unter den Forschenden verschiedenster Disziplinen.

Auch bei Schüles Buch (Droemer 2017, 256 S., 19,99 Euro) hat der Verlag einen vollmundigen Auszug prominent auf den Einband setzen lasen. „Die Frage nach der Heimat ist die drängendste unserer Zeit“, und diese „unsere Zeit“, so ahnt man, ist eben nicht zuletzt eine, in der ganz reale Menschen nicht den Luxus genießen, abstrakt, akademisch darüber sinnieren zu können, wie sie’s halten mit dem irgendwann zu eng gewordenem Elternhaus und dem allzu vertrautem Kirchturmglockenklang; Menschen, denen andere auf denkbar brachialste Weise die Definitionsmacht entwunden haben – darüber, was Eigenes ist und was Fremdes, wo sie hingehören und wo plötzlich nicht mehr.

Erst recht vor dem Hintergrund von Migration und Flucht und Globalisierung stellen sich ja die Fragen nach Herkunft und Zugehörigkeit. Schüle hat sich vorgenommen, „den Begriff der Heimat auf der Basis seiner Landläufigkeit zeitgemäß zu durchdenken und womöglich neu zu verstehen“, und dazu zieht er Religions- ebenso wie Neurowissenschaften heran, positioniert sich aber auch gegenüber dem Nationalismus („politisierter Heimatschutz gegen die scheinbare oder empfundene Überfremdung“), ohne aber mal eben abzuurteilen: Denn das, schreibt er, wäre „unredlich“.

Überhaupt begreift er sein Buch als Debattenbeitrag, und das hat unter anderem zur Folge, dass er mitunter auf vielleicht journalistisch zu nennende Pointen hinschreibt: „Auf dem vermeintlichen Höhepunkt der Zivilisation in den ersten 16 Jahren der 2000er gibt es einen Regress ins Infantile zu verzeichnen, dem Freund-Feind-Schema analog zum primitiven Reiz-Raktions-Muster der Twitter- oder Facebook-Ära: Daumen rauf, Daumen runter.“

Umso reizvoller Schüles Zusammentreffen mit dem lange in Frankreich wirkenden Germanisten Karl Heinz Götze: Der wirft in seinem Buch „Was aus der Heimat wurde, während ich lange weg war“ (S. Fischer, 320 S., 22 Euro) die eigene Kindheit in der nordhessischen Provinz („Dahinter eine gefühlte Tagesreise entfernt Göttingen“) noch mal ganz anders, Funken sprühend, in die sprichwörtliche Waagschale.

Yachtclub „Heimat – Ein Phantomschmerz“ mit Christian Schüle: Di, 21. 11., 20 Uhr, Nochtspeicher

„Hamburger Mittagsgespräch – Was ist Heimat?“, mit Karl-Heinz Götze und Christian Schüle : Mi, 29. 11., 12.15 Uhr (inkl. Mittagsimbiss), Palais Esplanade, Esplanade 14–16, Anmeldung erforderlich unter: hamburg@akademie.nordkirche.de