Einst Verheißung, heute eine Hölle

Hasnain Kazim hat als Korrespondent in der Türkei gearbeitet. Bis er Hals über Kopf das Land verlassen musste. In seinem Buch „Krisenstaat Türkei“ skizziert er das Abdriften des Landes in eine Autokratie

Hasnain Kazim: „Krisenstaat Türkei. Erdoğan und das Ende der Demokratie am Bosporus“. DVA, München 2017, 257 S., 20 Euro

Von Ingo Arend

Modell für die Welt“. Man muss sich die pathetische Rhetorik Barack Obamas noch einmal auf der Zunge vergehen lassen, in die der amerikanische Präsident beim Staatsbesuch 2009 verfiel. Die Türkei pries er in Ankara als „säkulares Land mit Respekt für den Rechtsstaat und alle Freiheiten“ und warb für dessen Aufnahme in die Europäische Union. Kaum acht Jahre später beklagt die Welt das Abgleiten des Landes in das genaue Gegenteil.

Das Wort „Diktatur“ meidet Hasnain Kazim, der ehemalige Spiegel-Korrespondent am Bosporus, in seinem jüngsten Buch. Er spricht von „Autoritarismus“. Doch für ihn ist klar: „Tatsache ist aber, dass die Türkei heute undemokratischer ist denn je.“ Die Frage nach einem EU-Beitritt des einst als „anatolischer Tiger“ bewunderten Landes hat sich für ihn erledigt. „Unter diesem Präsidenten, mit dieser Politik ganz gewiss nicht.“

Dieses Fazit dürfte dem 1974 als Sohn indisch-pakistanischer Einwanderer in Oldenburg geborenen Journalisten nicht leichtgefallen sein. Denn als er sich nach vier Jahren als Südostasien-Korrespondent des Hamburger Magazins in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad nach einem weniger gefähr­lichen und freizügigeren ­Standort umsah, verfielen er und seine Frau Janna 2013 auf die Türkei. „Istanbul erschien uns wie eine Verheißung“, schreibt er im Rückblick. Das war kurz vor dem Aufstand im Gezipark.

„Krisenstaat Türkei“ ist eine Art Bilanz der drei kurzen Jahre als Auslandskorrespondent in Istanbul. 2016 mussten Kazim und seine Familie das Land Hals über Kopf verlassen, weil seine Presseakkreditierung nicht verlängert worden war. Gemessen an den „Verräter“- oder Antitürke“-Schmähungen wütender Nationalisten und fanatischer Erdoğan-Anhänger, die Kazim wegen seiner kritischen Berichterstattung über sich ergehen lassen musste, ist dieses Türkei-Porträt überaus sachlich und differenziert ausgefallen.

Ein völlig neue Sicht auf das Land bietet das Buch nicht. Aber anschaulich und pointiert skizziert Kazim von der Gründung der türkischen Republik über den politischen Aufstieg Erdoğans bis zur „kurdischen Frage“ all ihre neuralgischen Punkte. Und er dröselt deren vertrackte Sozialpsychologie auf: das ständige Gefühl, „allein gegen die Welt“ zu stehen. Wer mit der Geschichte und der aktuellen Politik der Türkei nicht vertraut ist, für den ist dieses Buch die ideale Einführung.

Kazim erinnert an die Abgründe der türkischen Gesellschaft: Die 397 ermordeten Frauen im vergangenen Jahr; aber auch an die Türkei als „selbstlosen Helfer“: bei dem Erdbeben 2005 in Kaschmir oder den zwei Millionen syrischen Flüchtlingen. Er benennt die Fehler des Westens, die den Autokraten mit groß gemacht haben: den verzögerten EU-Beitrittsprozess. Das „Gefühl der Isolation“ vieler Türkischstämmiger in der Bundesrepublik.

Bis heute fehle die Erkenntnis, „dass diese Menschen und ihre Nachfahren mit allem, was sie mitgebracht haben, auf Dauer ein Teil Deutschlands sind“, beschreibt er das Manko der Integrationspolitik. Meint aber, dass sich die Türken in Deutschland dafür rechtfertigen müssen, einen Mann mit gewählt zu haben, der „die Demokratie immer weiter aushöhlt“. Recht hat er: Denn so wie Erdoğan Parlament und Justiz entmachtet und sich zum Alleinherrscher aufschwingt, taugt sein Land höchstens noch als abschreckendes Modell für die Welt.