Wenn eine Gewalt erlebt, ist keine frei

In Latein-amerika ist „Femizid“ ein bekannter Begriff für geschlechtsspezifische Tötung. In Deutschland benutzt ihn fast niemand

Von Lya Cuéllar
und Lisa Pausch

Am 17. Mai diesen Jahres wurde die 19-jährige Liza P. nach einem Vergewaltigungsversuch in Berlin ermordet. Ligia ruft Lizas Namen durch ein Megafon. Sie steht auf dem Hermannsplatz in Berlin. Es ist der 25. November, Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen. Die Aktivistin spricht mit rollendem R und fester Stimme. „Wir haben den Eindruck, dass man in Deutschland glaubt, so etwas passiere hier nicht“, sagt sie. Die Medien schrieben von Familien- und Eifersuchtsdramen oder dem „blutigen Ende einer unerfüllten Liebe“. Ligia lacht spöttisch. „Es ist ein Feminizid: Frauen werden getötet, weil sie Frauen sind“.

Um Ligia herum stehen rund dreihundert Menschen, die Regenschirme wie kleine Dächer über den Köpfen. Auf einem Transparent steht: „Stoppt den Femizid“. Die Initiative zur Demonstration kam von feministischen und internationalen Organisationen wie Ni Una Menos Berlin, dem International Women Space (IWS) oder dem Frauenrat Dest Dan. Ligia ist Mitglied bei Ni Una Menos Berlin, die Organisation wurde vor einem Jahr gegründet, als Antwort auf die argentinische Bewegung gegen geschlechtsspezifische Gewalt. Seit 2015 hat sich Ni Una Menos in ganz Lateinamerika verbreitet und Tausende zu Demonstrationen mobilisiert. Unter #femicidio erscheinen in sozialen Netzwerken fast täglich Wortmeldungen.

Asiye von IWS ist 30 und spricht schnelles Englisch. Ihre Stimme bröckelt wie loser Stein, sie ist aufgebracht. „Als ich in der Sprachschule den Flyer herumgab, fragte mich der Lehrer: Warum benutzt du das Wort?“ In deutschen Medien werde kaum über Femizide gesprochen, und wenn, dann „nur wenn Menschen mit Migrationshintergrund das tun“. Asiye spricht vom Patriarchat, dann sagt auch sie dieses Wort. Femicide. „Die Leute denken, sie haben nichts damit zu tun, sie beschäftigen sich nicht damit“. Femizid. Viele auf der Demonstration wissen, was mit dem Begriff gemeint ist.

Es gibt keine einheitliche Definition für ihn. Geprägt wurde er vor allem von der Soziologin Diana Russell in den siebziger Jahren. Femicide stellt eine Abgrenzung zum englischen „homicide“ dar, ein theoretisches Konzept, anhand dessen die Tötung von Frauen als Konsequenz patriarchaler Verhältnisse sichtbar gemacht wird. Töten passiert dann aus Hass, Verachtung, Vergnügen, Besitzdenken und vor allem nicht aus – Liebe. Femizid, manchmal auch Feminizid, schließt teilweise auch die fehlende staatliche Resonanz ein.

Im Jahr 2016 wurden in Deutschland mehr als 133.000 Menschen Opfer von Gewalt in Partnerschaften, 82 Prozent der Opfer waren weiblich. Unter Mord und Totschlag wurden 357 Fälle gelistet: In 208 Fällen überlebte die Frau, in 149 Fällen nicht. Damit versuchte alle 25 Stunden ein Mann in Deutschland, seine (Ex-)Partnerin oder Ehefrau zu töten, alle 59 Stunden wurde aus dem Versuch ein Mord oder Totschlag. Und: Bis 2011 existierte keine bundesweite Statistik, die das Verhältnis von Opfer und Täter aussagekräftig erfasste. Liza P. war nur mit der Verlobten des Täters befreundet – somit fällt die Tat nicht unter „häusliche Gewalt“. Die Wörter „Femizid“ und „geschlechtsspezifisch“ tauchen in den deutschen Statistiken nicht auf.

„Ich finde, das ist eine Lücke“, sagt Ulle Schauws, frauenpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag. „Es muss eine viel differenziertere Sichtweise auf die Motive von Gewalttaten geben.“

Auf der Demo sagt eine Frau: „Es ist beeindruckend, wie in anderen Ländern unter dem Begriff viel Politik gemacht und auf die Straße gegangen wird. Ich finde es wichtig, die Struktur hinter Gewalt sichtbar zu machen.“

„Frauen. Leben. Frieden“, stimmen die Frauen mit den lilafarbenen Fahnen auf Kurdisch an. Auf einem Banner steht auf Spanisch: „Die Straße und die Nacht gehören uns auch.“ Durch die Menge raunt mehrsprachiges Zugestimme. Man könnte meinen, die Demonstration zum Internationalen Tag der Gewalt gegen Frauen wäre vor allem eines nicht: ein deutsches Problem.

„Man denkt, dass es in Europa keine Gewalt gibt, dass die Frauen frei sind“, sagt Melek, Mitglied des kurdischen Frauenrates Dest Dan, und schüttelt den Kopf. „Keine Frau ist frei, wenn eine Frau Gewalt erlebt.“