Hartz IV auf dem Prüfstand: Gericht muss tricksen

Das Celler Landessozialgericht urteilt: Schulbücher können nicht aus Hartz-IV-Sätzen bestritten werden, wie das Gesetz vorsieht

Schulbücher kosten oft mehr Geld als Hartz IV erlaubt.. Foto: Friso Gentsch/dpa

HAMBURG taz | Der Staat muss für Familien, die Hartz IV beziehen, zusätzlich die Kosten für Schulbücher übernehmen. Diese Entscheidung des Landessozialgerichts in Celle vom vergangenen Montag bedeutet für die von staatlichen Transferleistungen abhängigen Eltern eine erhebliche finanzielle Entlastung.

Doch das Urteil, das die Jobcenter dazu verpflichtet, die Kosten für Schulbücher zu übernehmen, steht auf tönernen Füßen. Das räumen die Celler Richter selber ein, die der unterlegenen Partei empfahlen, Revision vor dem Bundessozialgericht einzulegen. Es gäbe eine „Rechtslücke“, möglicherweise seien die entsprechenden Passagen des Sozialgesetzbuches (SGB) II, die die Ansprüche von Hartz-IV-EmpfängerInnen regeln, nicht verfassungskonform.

Das Gericht hatte am Montag einer Oberstufenschülerin aus Hildesheim Recht gegeben, die vom dortigen Jobcenter Schulbuch-Kosten in Höhe von 214,40 Euro erstattet bekommen wollte. Das zuständige Jobcenter hatte das abgelehnt. Schulmaterialien seien aus dem Hartz-IV-Regelsatz zu bezahlen oder aus dem “Schulbedarfspaket“ von 100 Euro pro Kind im Schuljahr.

„Jetzt ist richterlich bestätigt worden, dass die Hartz-IV-Beträge nicht ausreichen, um Kindern die notwendigen Schulmaterialien zu finanzieren“, würdigt Jens Lehmann von der Niedersächsischen Diakonie das Celler Urteil. Er kann dabei auf eine 2015 im Auftrag der Diakonie und der Landeskirche Hannover erstellte Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD verweisen. Deren Autoren betonen, dass die durchschnittlichen Schulbedarfskosten pro SchülerIn bei 214 Euro liegen und damit „gut doppelt so hoch wie die Leistungen des Schulpakets“.

In einzelnen Schuljahren würden die privat zu tragenden Kosten für Schulmaterialien auch schon mal die 300-Euro-Marke locker knacken, gar über 400 Euro liegen, geht aus dem Gutachten hervor. Nicht eingerechnet seien dabei Sonderausgaben, wie sie etwa im Musikunterricht anfallen können. Auch die Kosten für die Nutzung eines Computers wären in den 214 Euro noch nicht drin.

Das Gericht sah das ähnlich, sprach von einer „offenkundigen Unterdeckung“ der Hartz-IV- und Schulpaketleistungen. „Schulbücher sind aus dem Regelsatz nicht zu bestreiten“, bringt es Gerichtssprecher Carsten Kreschel auf den Punkt. Die Teile des SGB II, die diesen Missstand zementieren, sind nach Auffassung der Celler Richter nicht verfassungsgemäß.

Die Tatsache, dass aus den Hartz-IV-Regelsätzen und dem „Bildungs- und Teilhabepaket“ des Bundes die Schulkosten nicht zu bestreiten seien, führe dazu, dass Kinder ärmerer Familien am Unterricht nicht vernünftig teilnehmen könnten und von Bildungschancen ausgeschlossen bleiben, argumentierte das Gericht und berief sich dabei auf das Bundesverfassungsgericht.

Carsten Kreschel, Sprecher des Celler Landessozialgerichts

Die Kosten für Schulbücher sind aus dem Hartz-IV-Regelsatz nicht zu bestreiten

Das hatte geurteilt, die Jobcenter müssten „alle notwendigen Kosten zur Erfüllung der Schulpflicht“ übernehmen, da SchülerInnen ohne die verbindlich vorgeschriebenen Schulmaterialien die Schule „nicht erfolgreich“ absolvieren könnten. Die jährlichen Schulbuchkosten seien zudem zu hoch, um sie aus dem Hartz-IV-Regelsatz anzusparen.

Um eine verfassungsgemäße Auslegung möglicherweise verfassungswidriger Gesetzesvorschriften zu erreichen, musste das Gericht tricksen, die Schulbücher als „Mehrbedarf“ anerkennen, obwohl der Mehrbedarfs-Paragraf des SGB II juristisch auf den zu entscheidenden Fall nicht passt. Diese „Gesetzeslücke“ veranlasste die Richter dazu, den Beklagten dringend zu empfehlen, Revision vor dem Bundessozialgericht in Kassel einzulegen, um eine Grundsatzentscheidung herbeizuführen – ein Urteil, das dann möglicherweise Gesetzesänderungen nach sich zieht. Eventuell sei sogar eine Vorlage vor dem Bundesverfassungsgericht notwendig.

Während die juristische Grundsatzentscheidung auf sich warten lässt, haben einzelne Kommunen schon gehandelt. So legte der Oldenburger Stadtrat Anfang 2017 einen Fonds von 50.000 Euro auf, um Familien beim Schulbuchkauf unter die Arme zu greifen. Doch die Idee scheitert bislang an der Praxis. Die Gelder wurden nicht ausgezahlt, die betroffenen Familien haben bis heute keine Infos bekommen, auf welchem Weg sie Unterstützung durch den Schulbuch-Fonds erhalten können.

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