Der Codex Sinaiticus

Die Bibliothek beherbergt die älteste bekannte Fassung des Neuen Testaments

Es war der 4. Februar 1859, als Constantin von Tischendorf seinen großen Fund machte. Nachdem er bereits zum dritten Mal mit großen Mühen und hohen Kosten eine Expedition von Leipzig aus ins Wüstenkloster im Sinai unternommen hatte, stieß er, als er schon alle Hoffnungen aufgegeben hatte, doch noch auf den Schatz, hinter dem er seit 16 Jahren herjagte: ein voluminöses Paket loser, per Hand in altgriechischer Unzialschrift versehener Pergamentseiten, die das komplette Neue Testament und große Teile des Alten Testaments enthielten. Beschrieben wurde dieses Pergamentpaket Mitte des 4. Jahrhunderts und ist damit bis heute die älteste bekannte Fassung des Neuen Testaments.

Als Tischendorf 1859 im Sinai-Kloster nach dem Manuskript fahndete, kam er im Auftrag des russischen Zaren Alexander II. Der sah sich damals als weltliches Oberhaupt der orthodoxen Kirche und wollte diesen Anspruch durch den Erwerb des Codex Sinaiticus unterstreichen. Mit viel Geld und dem Versprechen, das Original wieder zum Katharinen-Kloster zurückzubringen, wenn es in Russland erfolgreich kopiert sein würde, überredete er die Mönche, den Codex nach St. Petersburg mitnehmen zu können, wo er dem Zaren präsentiert wurde. Rund 43 Seiten, die Tischendorf schon bei seiner ersten Reise zum Sinai entdeckt hatte, brachte er damals zu seiner Universität nach Leipzig, wo sie bis heute im Tresor lagern. Der Hauptteil des Codex blieb zunächst in Russland und überlebte dort unbeschadet den Untergang des Zarenreiches. Ab 1928 begannen die Sowjets unter Stalin die Kunstschätze des Zarenreiches zu verkaufen, weil sie dringend Geld für die Industrialisierung brauchten.

Ein britischer Kunsthändler erfuhr vom Codex Sinaiticus und initiierte in England eine öffentliche Sammlung, die die 100.000 Pfund zusammenbrachte, die Stalin verlangte. Im Jahr 1933 wurde der Codex feierlich der britischen Öffentlichkeit präsentiert. Weil ein paar Anhänge in Petersburg verblieben und die Mönche im Sinai bei Umbauarbeiten in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts noch einmal einen Packen des Codex in einer jahrhundertelang verschlossenen Kammer entdeckten, ist das Buch der Bücher nun über vier Standorte verteilt: die British Library, das Sinai-Kloster, St. Petersburg und Leipzig. Ab 2005 startete die British Library ein Großprojekt, um den gesamten Codex zu digitalisieren. Seit 2009 kann man den kompletten Codex im Internet lesen: www.codex-sinaitucus.net. (jg)