Schüler und ihre Familiengeschichte: „Wir bringen Kindern das Falsche bei“

In fast allen Familien gibt es Migrationserfahrungen. Der Forscher Christoph Rass verleiht Schüler*innen in Workshops einen neuen Blick auf ihre Familiengeschichte.

Eine Familie steht vor einem Schiff zum Einsteigen bereit.

Was macht eigentlich der nach Amerika ausgewanderte Onkel? Bremerhaven 1952 Foto: dpa

taz: Herr Rass, Sie sind Migrationsforscher und machen seit zwei Jahren Workshops mit SchülerInnen zu ihrer Familiengeschichte. Wie viele Kinder haben einen Migrationshintergrund?

Christoph Rass: Eigentlich alle, das ist ja der Ansatzpunkt. In fast jeder Familiengeschichte gibt es Migration und Mobilität. Schulbücher behandeln Migration sehr oft als problembehaftetes Thema. Das verfestigt in heterogenen Schulklassen, die wir heute haben, einen fatalen Diskurs – auf der einen Seite gibt diejenigen mit „Migrationshintergrund“ und auf der anderen diejenigen, die scheinbar nichts mit Migration zu tun haben. Und die mit „Migrationshintergrund“ – in einer durchschnittlichen Grundschulklasse 14 bis 50 Prozent – sind dann das „Problem“.

Hilft die Auseinandersetzung der Kinder mit ihrer Familiengeschichte dagegen?

Indem wir mit der Mobilität der Familien arbeiten, Lebensläufe betrachten und Lebenswege kartieren, wählen wir einen Zugang, bei dem Migration nicht von vornherein als nur eine Minderheit betreffend wahrgenommen wird. Die Kinder sprechen über Mobilität nicht mehr in starren Kategorien von Migration und Sesshaftigkeit oder „Ausländern“ und „Einheimischen“. Sie können Mobilitätserfahrungen in ihren Familien so als etwas Verbindendes erkennen.

Wie laufen die Workshops ab?

Wir betrachten gemeinsam die Lebensorte von vier Generationen der Familien der Kinder. Das sind ungefähr 100 Jahre – die Urgroßeltern der SchülerInnen waren also am Ende des Ersten Weltkriegs Kinder. Unsere 90-minütigen Workshops etwa haben einen langen Vorlauf: Es gibt Vorbereitungstreffen und einen Fragebogen für die Recherchen.

Was machen Sie mit den Daten?

Wir digitalisieren sie und visualisieren die Familienwege auf Landkarten. So sind Wege zwischen den Orten sichtbar. Es gibt immer kleinere oder auch größere Bewegungen, welche die Kinder dann entdecken, diskutieren, vergleichen und dazu Geschichten erzählen. Selbst die kurzen Workshops lösen schon ganz viel aus und die LehrerInnen arbeiten mit dieser Dynamik weiter.

ist Professor für Neueste Geschichte und Migrationsforschung an der Uni Osnabrück. Für die Workshops zu Familiengeschichte und Migration erhielt er im November 2017 den Kalliope-Preis für praxisnahe Migrationsforschung des Deutschen Auswandererhauses Bremerhaven.

Warum haben Sie einen Zeitraum von 100 Jahren gewählt?

Hundert Jahre sind noch im kommunikativen Familiengedächtnis vorhanden und die Lebenswege bis zu den Urgroßeltern lassen sich in den meisten Fällen noch zurückverfolgen. In den Familiengeschichten zeichnet sich aber auch die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts ab. In diesem Zeitraum finden wir alle Facetten von Mobilität und Migration der Moderne, Deportation, Vertreibung und Flucht ebenso wie Arbeits- und Bildungsmigration oder Armutswanderung.

Wie unterscheidet sich Migration zwischen damals und heute?

Über ein Jahrhundert werden viele Ähnlichkeiten und Unterschiede sichtbar: Wer vor hundert Jahren vom Land in die Stadt zog, vielleicht über konfessionelle Grenze hinweg in ein Gebiet mit einem anderen Dialekt, hatte möglicherweise ein ausgeprägtes Gefühl von Fremdheit am neuen Lebensort – auch wenn die Wanderung nicht über eine Staatsgrenze ging. Die Integrationsleistung, die man heute erbringen muss, wenn man als EU-Bürger innerhalb der Europäischen Union umzieht, wird vielleicht als viel weniger dramatisch empfunden.

Wie alt sind die Kinder, mit denen Sie die Bewegungsmuster in den Familien rekonstruieren?

Meist führen wir die Workshops in vierten bis sechsten Klassen durch, haben sie aber auch schon mit siebten und achten Klassen gemacht. Am spannendsten und produktivsten ist es aber mit relativ jungen SchülerInnen, da hier die kategorialen Vorstellungen von Migration und Zugehörigkeit sich noch nicht verfestigt haben. Bei älteren Kindern ist das anders – die haben häufig schon viel über gesellschaftliche Hierarchien gelernt, vieles muss also erst wieder dekonstruiert werden. Man sieht, zwischen den Altersgruppen passiert etwas, wir bringen ihnen möglicherweise das Falsche bei.

Was für Erkenntnisse ziehen die SchülerInnen denn aus ihrer Familiengeschichte?

Es kommen viele fast vergessene Geschichten zur Sprache. Selbst bei über Generationen scheinbar sesshaften Familien, etwa aus der Landwirtschaft, finden sich dann Vorfahren, die zugewandert sind und eingeheiratet haben. Vielleicht kommt die Oma aus Breslau und musste nach dem Zweiten Weltkrieg von dort fliehen. Oder man fragt sich: Was ist eigentlich mit dem Onkel, der nach Amerika ausgewandert ist?

Was macht es mit den Kindern, darüber nachzudenken?

Es zeigt sich, dass Mobilität und Migration im absolut überwiegenden Teil der Familien über vier Generationen eine Rolle gespielt hat. Wenn wir an dem Punkt angekommen sind, werden diejenigen SchülerInnen mit „Migrationshintergrund“ ein Stück weit anders wahrgenommen.

Haben Sie Beispiele?

Bei einem Mädchen etwa war die Familie in den 1980er Jahren aus Vietnam geflohen, sie gehörten zu den sogenannten Boat People. Die Kinder stellten dann fest, dass Fluchterfahrungen auch in anderen Familien zu finden sind, auch wenn die Kontexte anders sind. Solche Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten stellen die Kinder auch bei Arbeits- oder Bildungsmigration fest.

Hat das Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen den Kindern?

In einem anderen Fall erzählte ein Junge stolz von seinem Opa, der nach Indien gegangen sei, um dort etwas zu bauen. Ein Mitschüler merkte daraufhin an, dass sein Opa aus der Türkei nach Deutschland gekommen ist, um hier etwas zu bauen. Diese kleinen Geschichten werden zu verbindenden Elementen, denn zuvor hätte niemand von ihnen eine Parallele zwischen der Zuwanderung der „Gastarbeiter“ und den Deutschen, die im Ausland arbeiten, gezogen.

Hat unsere Gesellschaft eine verzerrte Sichtweise auf Migration?

Mit „Migration“ meinen wir heute die Verlagerung des Lebensortes über eine internationale Grenze – das ist letztlich eine politische Definition. Davon wollen wir in den Workshops zunächst Abstand nehmen und erst einmal darüber sprechen, warum Menschen ihre Lebensorte verlassen. Damit beginnt ein Hinterfragen von Kategorien. Wer in den 1960er Jahren als Arbeitsmigrant nach Deutschland kam und schließlich sesshaft wurde – einwanderte – gilt bis heute als „Gastarbeiter“. Wenn ich als Wissenschaftler ins Ausland gehe – um dort zu arbeiten – kann ich mich als „Expat“ bezeichnen.

Was für einen Unterschied macht das?

Die einen werden, über Generationen, eine negativ konnotierte Zuschreibung nicht los, die anderen können sich in privilegierten Kategorien verorten. Menschen befinden sich in ständigem Wechsel zwischen Verweilen und Bewegung. Mobilität und Migration prägen die meisten Gesellschaften seit langem. Das sollte als Normalität akzeptiert werden. Dafür ist es aber eben wichtig zu verstehen, dass Mobilität stets politischen Regulierungsversuchen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen unterliegt, die sie gewissermaßen in Migration übersetzen.

Wiederholen sich die Beweggründe für Migration?

Menschen bewegen sich immer dann, wenn sie das Bedürfnis haben, ihr Leben dadurch zu verbessern. Das kann positiv erfolgen, also etwa zum Arbeiten, Lernen oder auch zum Heiraten. Bewegung kann aber auch dem Versuch dienen, Negatives zu vermeiden, so etwa bei einer Flucht.

Nehmen Sie als Migrationsforscher selbst etwas aus den Workshops mit?

Die von uns erhobenen Daten werden nicht weiter ausgewertet. Wir nehmen aber natürlich viele anregende Beobachtungen mit, darüber etwa, wie weit das Familiengedächtnis zurückreicht und welche Rolle dabei Migration und Mobilität spielen, wie sie erzählt und erinnert werden. Bislang sind wir beispielsweise davon ausgegangen, dass die Erfahrungen von Angehörigen, die im Zweiten Weltkrieg fliehen mussten, für die Familiengeschichte sehr lange konstitutiv bleiben. Für die Urenkel spielt diese Geschichte aber kaum mehr keine Rolle. Außerdem zeigen die Workshops, wie wichtig es ist, reflexiv zu arbeiten. Die eigentlich politischen Kategorien, mit denen wir auch in der Forschung arbeiten, zu hinterfragen. Auch das ist eine Idee hinter dem Projekt – politische Prämissen darüber, was Migration und wer ein Migrant ist, zu diskutieren.

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