Die Rückwärts-Taxonomie

Mit dem Band „Retrospektiv Bauen in Berlin seit 1975“ kartografiert die Architektin Verena Hartbaum Neubauten, Bauherren und Investoren in Berlin: Besonders seit der Wiedervereinigung eine beklemmende Geschichte

Links: Wohnblock von Josef P. Kleihues am Vinetaplatz, rechts Wohn- und Geschäftshaus Upper Eastside/Friedrichstr. von Meinhard Gerkan/Volkwin Marg Fotos: aus d. bespr. Band

Von Sophie Jung

Schon der Einband dieses Berliner Architekturführers irritiert. Morbides Lilabraun wird von der fetten Blockschrift des Titels „Retrospektiv Bauen in Berlin“ überblendet. Seine Autorin Verena Hartbaum unterstreicht damit subtiles Unbehagen. Die Architektin hat für ihr Buch Berliner Bauten von 1975 bis heute zusammengetragen. Alle Beispiele – ausschließlich Neubauten – zeigen rückgreifende Architektur. Von der ersten Wiederaufnahme lokaler Bautraditionen in den Siebzigern über das freudvolle Zitieren historischer Stile in der Postmoderne bis zum strengen Historisieren nach der Wende zeichnet ihr Band die verschiedenen Spielarten retrospektiven Bauens in Berlin nach. Scheinbar wertfrei ordnet Hartbaum die Gebäude nach Baujahr und Ort mit Nennung von Architekten und Bauherren in einem Karteikartensystem an. Und gerade in dieser nüchternen Darstellung breitet das Buch eine ganze Taxonomie über die Rückwärtsgewandtheit der Hauptstadt-Architektur aus.

Nur selten kennt man Bauherren – als Geldgeber eigentlich maßgebliche architektonische Mitgestalter. Hartbaum aber holt ihre sonst verborgenen Namen hervor. Die Hofgarten Real Estate B.V. Amsterdam etwa finanzierte in den frühen Neunzigern die Bebauung lukrativer Grundstücke rund um den Gendarmenmarkt. Sie sollten an diesem repräsentativen und zentralen Platz auch das öffentliche Bild der neuen Hauptstadt prägen. Den historischen Stadtgrundriss nachzeichnend, ist ihre Architektur eine erste Umsetzung des Planwerks Innenstadt, das der ehemalige Senatsbaudirektors Hans Stimmann vorangetrieben hatte. Das Planwerk beinhaltete nicht nur eine Rekonstruktion des Stadtbildes, sondern auch eine Neuinterpretation des preußischen Stils: strikte Traufhöhe zur Straße von 22 Metern bzw. 35 Metern, stark gegliederte Lochfassaden. Ein auf zeitgenössische Dimensionen aufgeblasenes Bürgerhaus, wie es im frühindustrialisierten Berlin um 1850 entstand, legte sich nach dem Leitbild Stimmanns in die neue Innenstadt, die nunmehr vor allem Büros und Geschäften Platz machte.

Hofgarten Real Estate B.V.

Mit der Hofgarten Real Estate B.V. taucht erstmals eine elitäre Architektengruppe am Gendarmenmarkt auf, die später in Berlin-Mitte noch an der Stimmann’schen Rekonstruktion des Stadtgrundrisses teilhaben sollten: Hans Kollhoff, Josef P. Kleihues und Vittorio Magnago Lampugnani. Ob Potsdamer Platz, Leipziger Platz oder Friedrichstraße – die großen Innenstadt-Baustellen der Neunziger wurden von diesen Architekten bespielt. Und Hartbaum setzt ihre Namen so beharrlich wie kommentarlos unter die schwarz-weißen Ablichtungen ihrer Bauten. Je weiter man sich in ihrer Chronologie zur Gegenwart vorarbeitet, umso deutlicher setzt sich ein Gebäudetypus durch: der klassizistische Kasten. Es dauert gut 40 Jahre, bis sich die spielerischen, aber theoretisch fundierten Anfänge eines retrospektiven Bauens, wie etwa Josef Paul Kleihues’ Wohnbau am Weddinger Vinetaplatz mit seiner lustig überdimensionierten Innenhoföffnung, zu dieser Einfältigkeit wandeln. Die Neunziger scheinen den Weg für diesen kühlen Klassizismus geebnet zu haben, der gegenwärtig hauptsächlich Wohnungsbau umfasst. Billige Bauten unterscheiden sich von teuren nur noch in handwerklichen Details. Nöfer Architekten oder Petra und Paul Kahlfeldt stellen handgemeißelte Säulen an ihre Eingänge in Mitte oder Dahlem, im preiswerteren Alt-Stralau belässt es Architekt Bernd Faskel beim einfachen Putz. Blättert man bis zum Ende des Bands, entsteht der beklemmende Eindruck, alle Berliner sehnten sich in die preußische Stadt des 19. Jahrhunderts zurück, als Adlige in die „Kronprinzengärten“ oder als Großbürger in die Quartiere und neuen Stadthäuser. Dass dies branchengemachte Sehnsucht ist, fasst Hartbaum mit der schau­rig-schönen Wort­schöpfung „Portfolio-Architektur zusammen. Vor allem im Luxussegment ist historisierende Ästhetik Teil der Vermarktungsstrategie internationaler Investoren. Mit lokalen Bedürfnissen der Bevölkerung hat diese Architektur wenig zu tun. Trotzdem stellen diese Bauten mittlerweile eine vereinheitlichende Norm in der Stadt dar. In ihrer monotonen Gestrigkeit findet selbst die Postmoderne keinen Platz mehr.

Verena Hartbaum:„Retrospektiv Bauen in Berlin seit 1975“, Reihe Disko 27, AdbK Nürnberg, 2017. 204 S., 15 Euro