heute in hamburg
: „Das Regime bangt um seine Macht“

Mako Qocgiri, 30, Politikwissenschaftler, arbeitet bei Civaka Azad, dem kurdischen Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit mit Sitz in Berlin.

Interview Alexander Diehl

taz: Herr Qocgiri, die Einladung zur heutigen Veranstaltung fragt nach der „aktuellen politischen Lage in der Türkei“. Wie würden Sie die beschreiben?

Mako Qocgiri: Die aktuelle politische Lage in der Türkei ist geprägt von einem zunehmend diktatorischen Regime, das jedoch immer stärkere Risse bekommt und tatsächlich ernsthaft um seine Macht bangt. Dass es gerade jetzt zu dem Angriffskrieg gegen Afrin kommt, ist auch in diesem Zusammenhang zu sehen. Durch die erzeugte Kriegshysterie versucht das AKP-Regime die Risse zu flicken. Und tatsächlich scheint das zu funktionieren.

Inwiefern?

Bis auf die HDP stellen sich alle politischen Parteien hinter den Krieg der Türkei. Gegenstimmen werden rigoros unterdrückt. Selbst ein Anti-Kriegs-Tweet führt zur Festnahme. Alle, die sich gegen den Krieg stellen, werden zu Terroristen erklärt.

Es gibt heute auch Protestkundgebungen in der Hoffnung, Auge und Ohr von Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) zu erreichen, der in Hamburg zu Gast ist. Was müsste Deutschland tun?

Zunächst einmal könnte die Bundesregierung aufhören, der Türkei bei ihrer kurdenfeindlichen Politik den Rücken zu stärken. Wir haben alle die Bilder der deutschen Leopard-II-Panzer gesehen, die bei der Offensive in Richtung Afrin gerollt sind. Trotzdem stehen weitere Panzerdeals auf der Tagesordnung. Hinzu kommt, dass die Bundesregierung auch innenpolitisch mit Repressionen gegen die Kurden vorgeht.

Wie das?

Die Fahnen der YPG und YPJ, also der Kampfverbände, die in Kobanê und Rakka den „Islamischen Staat“ geschlagen haben, gelten auf Demonstrationen in Deutschland faktisch als verboten. Die deutsche Bundesregierung verfolgt eine knallharte Interessenpolitik und steht entsprechend auf der Seite der Türkei, auch in deren Kampf gegen die Kurden. Die Türkei wiederum schöpft aus dieser Haltung der Bundesregierung Mut, um ihren Kurs weiterzuverfolgen.

Nehmen wir an, Präsident Erdoğan kann ungehindert weitermachen: Wo sehen Sie die Türkei in, sagen wir: zehn Jahren? Wo die Kurden – und was wird aus der Annäherung Ankaras an die EU geworden sein?

Ich denke, Erdoğan wird nicht ungehindert weitermachen können. Jede Diktatur ist dazu verurteilt, früher oder später in sich zusammenzubrechen. In der Türkei ist dieser Zeitpunkt meiner Meinung nach näher, als man denken mag. Der Krieg in Afrin hat dem Erdoğan-Regime vielleicht noch mal ein wenig Lebenszeit verschafft. Aber wie gesagt, die Risse werden tiefer und lange kann das nicht mehr gut gehen. Ich möchte das nochmals an den Ergebnissen des Verfassungsreferendums aus dem letzten Jahr deutlich machen: Trotz der einseitigen Medienpropaganda und des unheimlichen Drucks auf die Opposition hat Erdoğan das Referendum nur ganz knapp für sich entscheiden können. Heute würde er ein solches Referendum nicht überstehen. Die schweigende Mehrheit ist gegen sein Regime. Wenn diese Mehrheit den Mut findet, ihr Schweigen zu brechen, könnte es eng für ihn werden.

Podiumsdiskussion „Quo vadis, Türkei?“ mit Mako Qocgiri, Leyla Imret (HDP-Bürgermeisterin von Cizre, Türkei), Cansu Özdemir (Linke) und Britta Eder (Rechtsanwältin): 18 Uhr, Uni, Von-Melle-Park 6, Hörsaal D