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: Das Diktat aus Berlin

Ein britischer Ex-Botschafter rechnet mit den Deutschen ab – diplomatisch

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Ulrike Herrmann

ist Wirt­schafts­kor­res­pon­dentin der taz. Sie ist ausgebildete Bankkauffrau und hat an der FU Berlin Geschichte und Philosophie studiert. 2016 erschien von ihr: „Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie oder Was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können“ (Westend).

Der provokante Buchtitel sagt alles: „Berlin regiert“. Deutschland sei allmächtig in Europa, und alle anderen EU-Staaten hätten brav zu folgen. Selbst Großbritannien, einstige Großmacht, sei nur noch Vasall.

Diese Sicht ist zwar weit verbreitet in England, aber interessant wird dieses Buch, weil es von einem britischen Diplomaten geschrieben wurde, der Europa und Deutschland bestens kennt: Paul Lever amtierte von 1997 bis 2003 als britischer Botschafter in Berlin. Aber er war auch in Brüssel stationiert, als Großbritannien 1973 der EU beitrat; in den 1980ern hat er für die Europäische Union gearbeitet, und in den 1990ern war er im britischen Außenministerium leitend für die Kontakte mit der EU zuständig. Hier spricht also ein Insider – der dennoch für den Brexit ist, um endlich der deutschen Übermacht zu entkommen.

Das Buch ist für Briten geschrieben; sie sollen verstehen, wie Deutschland und Europa funk­tio­nieren. Trotzdem ist der Text auch für Deutsche lohnend, obwohl simple Fakten oftmals nicht stimmen. Ein paar Beispiele: Bei Lever hatte Westdeutschland nur neun Bundesländer, dafür lebten in der DDR aber 20 Millionen Menschen, Kurt Georg Kiesinger war angeblich der zweite Kanzler, und Deutschland soll nur dreimal Fußballweltmeister gewesen sein.

Doch diese Details sind unwichtig; es geht nicht so sehr um Wahrheit, als vielmehr um Wahrnehmung. Levers Buch ist ein einzigartiges Dokument, wenn man verstehen will, wie die Briten Europa erleben.

Eigentlich, so der Tenor, benötigen die Briten die EU gar nicht. Sie sei letztlich ein kontinentaleuropäisches Projekt, das 1957 von Verlierern des Zweiten Weltkriegs gegründet wurde. „Alle sechs Gründerstaaten hatten Besetzung und Zerstörung in der Zeit von 1939 bis 1945 erlebt. In allen diesen Ländern herrschte das Gefühl vor, dass ihre Regierung versagt hatte und dass eine neue politische Ordnung nötig ist.“ Wie anders war es dagegen in Großbritannien: „Unsere demokratischen Institutionen hatten nicht versagt, unsere politischen Führer hatten uns nicht verraten, unser Selbstwertgefühl war nicht zerstört. Im Gegenteil: Wir waren stolz, wie wir durchgehalten hatten, und wir empfanden, dass wir unseren Sieg verdient hatten. Es war tatsächlich unsere beste Zeit.“

Die Briten besannen sich zwar und wollten 1961 nun doch in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft eintreten, wie die EU damals hieß. Aber damit begann eine lange Reihe von Verletzungen, die manchmal echt und manchmal eingebildet waren. Erste Demütigung: Die Franzosen legten ihr Veto ein, sodass sich der Beitritt Großbritanniens bis 1973 verzögerte.

Traumatisch war auch das Jahr 1992, als die Briten aus dem Europäischen Währungssystem ausscheiden mussten. Denn Deutschland verweigerte jede Hilfe, als Hedgefonds-Manager George Soros eine Spekulationswelle gegen das Pfund lostrat – was ihm selbst einen Gewinn von mindestens einer Milliarde Dollar einbrachte.

Wie sehr diese Episode noch heute schmerzt, vibriert durch Levers Buch: „Die Brutalität, mit der die Bundesregierung und die Bundesbank auf die flehenden Bitten des britischen Premiers John Major reagierten, war frappierend. Kanzler Kohl war nicht bereit einzuschreiten, und der Präsident der Bundesbank, Helmut Schlesinger, weigerte sich knallhart, entweder Pfund zu kaufen oder die Zinsen um mehr als 0,25 Prozent zu senken. […] Er ließ sich sogar am Telefon verleugnen, als der britische Premierminister anrief.“

Levers Kritik ist leider nur zu berechtigt: Deutsche glauben zwar gern, dass die Bundesbank eine hehre Institution sei, aber mit ihrem Hang zur Hochzinspolitik hat sie viel Schaden angerichtet – in Deutschland genauso wie im Rest Europas.

Das Verhältnis zwischen deutschen Kanzlern und britischen Premiers war nie innig. Eine Ausnahme war das Tandem Gerhard Schröder und Tony Blair, als diese gemeinsam nach einem „dritten Weg“ für die europäische Sozialdemokratie suchten. Doch auch diese Kooperation zerbrach bald wieder, als Blair 2003 am Irakkrieg des US-Präsidenten George W. Bush teilnahm.

Skurril wird Levers Abrechnung, wenn er sich darüber erregt, wie Jean-Claude Juncker zum EU-Kommissionspräsidenten wurde. Bekanntlich hat die Mehrheit des Europäischen Parlaments Juncker in sein neues Amt gehoben. Doch für diese demokratische Wahl hat Lever nichts übrig, sie sei eine „Machtergreifung“ gewesen.

Denn in Großbritannien wollte niemand Juncker; er war beim Unterhaus ebenso unbeliebt wie in der Downing Street. Daher hätte der Luxemburger, so sieht es jedenfalls Lever, niemals Kommissionspräsident werden dürfen. Lever fordert implizit, dass die Briten immer und überall ein absolutes Vetorecht haben sollten – egal was die Mehrheit der EU-Bürger entscheidet.

Die Briten benötigen die EU nicht – es ist ein Projekt von Verlierern

Lever hat zweifellos recht, dass die Deutschen in der EU extrem mächtig sind. Aber er spielt herunter, wie rabiat die Briten ihre eigenen Vorteile wahren. So schreibt er beispielsweise über den Dauerkonflikt um die Steuern: „Das Vereinigte Königreich […] war entschieden gegen jede EU-Maßnahme bei den direkten Steuern.“ Punkt.

Dieser Satz klingt harmlos, aber dahinter verbirgt sich, dass Großbritannien die größte Steueroase der EU ist. Denn von London aus werden die Krongebiete verwaltet, die allesamt Briefkastenfirmen anbieten – seien es die Kaimaninseln, die Jungferninseln, Guernsey oder die Isle of Man.

Lever ist Jahrgang 1944, und es wirkt, als sei er im britischen Königreich der 1960er Jahre stecken geblieben. Im gesamten Buch wird nirgends reflektiert, was es bedeutet, dass sich London seither zum größten Finanzplatz Europas entwickelt hat – und ob die britischen Banken einen Brexit überleben könnten. Stattdessen wird der Eindruck erweckt, als wäre England eine normale Handelsnation.

Das Buch schließt daher optimistisch mit der Prognose: „Viele Briten werden in zwanzig Jahren vergessen haben, dass Großbritannien jemals Mitglied der EU war.“