Was vom Leben übrig bleibt

Nach einem Brand auf St. Pauli liegen die Habseligkeiten des Opfers auf der Straße. Tagelang, wochenlang. Jeder kann in das Leben des Gestorbenen blicken. Schlimm, aber vielleicht auch gut

In Jahren einzeln zusammmengetragen: der Haufen vor der ausgebrannten Wohnung auf St. Pauli Foto: Christa Pfafferott

Von Christa Pfafferott

Ein Mann ist im Feuer gestorben. Jetzt liegt sein Leben auf der Straße. Er mochte anscheinend Bücher, er liebte wahrscheinlich Musik. Er las über Beethoven, Bob Dylan, „Entartete Musik“. Ihn beschäftigte das Solarsystem und „richtiges Telefonieren“. Alle können das jetzt sehen.

Altona, Bernstorffstraße. Dunkelheit. Vor einem Klinkerhaus sehe ich Grablichter brennen und bleibe stehen, rieche nun die verbrannte Luft, sehe im Laternenlicht zugenagelte Fenster in Parterre – und dann den Berg:

Etwa zwei Meter hoch und mehrere Meter breit türmt sich ein Menschenleben: DVDs, Kleider, Möbel, Bücher – Hunderte Bücher, wüst übereinandergeschichtet. Als wäre jemand mit einer Baggerschaufel in eine Wohnung gefahren und hätte alle Einrichtung von innen nach außen gezogen. Hier wird sichtbar, was sonst verborgen ist. Verkehrt sieht das aus. Kaum ein Lebender würde wohl wollen, dass sich sein privates Eigentum so vor dem Fenster türmt.

Im Internet suche ich nach Informationen, finde Berichte, eine Mitteilung der Feuerwehr: Vor ein paar Tagen, am 25. Januar, ist hier ein 44-Jähriger Mann gestorben. Anwohner haben am Nachmittag aus der Wohnung Schreie gehört und die Rettung alarmiert. Die Feuerwehrleute kamen zuerst nicht in die Straße, weil Falschparker die Kreuzung blockierten. Dann kamen sie nicht in die Wohnung, weil innen ein Regal vor die Tür gekippt war. Sie stiegen schließlich von der Straße durch die Fenster ein. Die Wohnung war voller Bücherregale, die Flammen verbreiten sich schnell, standen meterhoch. Die Feuerwehrleute stiegen den Flammen direkt entgegen. Sie kamen sechs Minuten nach dem Alarm. Da war der Mann schon tot.

Am nächsten Tag fällt Regen auf den Berg. Es riecht immer noch intensiv nach Rauch, er zieht in die Atemwege, erfasst einen körperlich. Menschen laufen vorbei, mustern die Szenerie betroffen. Mit alten Schranktüren und einem weiß-roten Absperrband ist der Berg vom Bürgersteig abgetrennt. Kinder bleiben stehen, halten sich die Nase zu, gucken auf einen Haufen, der in Jahren einzeln zusammengetragen wurde: „Mozart der Mensch“, „Die Zeit der Kelten“, „Jetzt brauche ich Aufträge!“; ein Buch über Ägypten, über amerikanische Malerei. Hier hat wohl jemand gelebt, der sich fortgebildet hat, der sich in seiner Einzimmerwohnung mit Raum und Zeit, mit den Zusammenhängen der Welt beschäftigte. Vor ein paar Tagen hatte das noch alles eine Bedeutung, wurde von ihm benutzt, bildete Haus-Halt, Zuhause, in das von der Welt reinkam, was er sich aussuchte.

Dann fand hier eine Intervention statt. Vor ein paar Tagen wurde alles getan, um ein Menschenleben in seiner ganzen Einmaligkeit zu retten, wurden die Bücher rausgeworfen, die sein Leben ausmachten und es nun gefährdeten. Jetzt regnet es darüber weg: Ein Leben ausgelöscht und kurz darauf löst sich die Bedeutung der Dinge auf.

Einzelne Buchseiten sind die Straße hin­untergeweht. Ein dickes Buch liegt oben auf dem Berg. Es ist rundum in Cellophan eingewickelt, als hätte der Mann es zu Lebzeiten besonders schützen wollen. Die Buchdeckel sind ganz schwarz verrußt.

Es gibt im Gesetz den „Schutz des Eigentums“. Wie lange über das Leben hinweg wirkt er? Niemand legt eine Plane über Dinge, schützt sie vor Blicken und Händen, wie bei einem toten Körper. Doch dies alles hier, das war auch der Mensch.

In der Straße liegen die Häuser und Wohnungen eng beieinander. Hinter jedem der Fenster existiert ein Leben mit Dingen, die es zusammenhält. Was denken die Nachbarn, die jeden Tag auf den Hügel blicken, der da liegt wie ein angehäuftes Grab? Wie geht es den Angehörigen, wenn sie sein verschüttetes Hab und Gut sehen? Wahrscheinlich kann niemand etwas dafür, doch trotzdem schmerzt es, dass hier ein Leben so offen liegt.

Vielleicht aber ist es auch gut, dass es schlimm ist. Auch wenn er sich das nicht ausgesucht hat – der Mann nimmt nun mit seinen Dingen Raum ein. Er verschwindet nicht so schnell. Es bleibt ein Zeugnis von ihm. Und vielleicht auch davon, dass sich andere Menschen selbstverständlich Raum nehmen. „Platz für Retter“, sagt der Sprecher von der Feuerwehr, „das brauchen wir. Das wollen wir dringend kommunizieren. Es gibt so viele Menschen, die mit ihrem Auto einfach auf Kreuzungen und in Halteverboten parken, wo wir nicht durchkommen im Notfall.“

Zwei Wochen nach dem Brand ist der Berg immer noch da, mittlerweile ist er eingesunken vom Regen, die Dinge des Mannes sind zu einer Masse aufgeweicht. Das dicke Buch, das er in Cellophan eingebunden hatte, ist weg. Jemand scheint es mitgenommen zu haben.