Pilotenbrille und Propeller

Das Leben ist eine Reise: „Unter einem Himmel“, die neue Uraufführung von Tanztheaterchef Mauro de Candia am Theater Osnabrück, ist düster und witzig, poetisch und skurril. Eine Choreographie, die in jeder Hinsicht auf hohem Niveau agiert

Diese Inszenierung ist so bizarr, wie man es selten sieht bei de Candia Foto: Jörg Landsberg/ Theater Osnabrück

Von Harff-Peter Schönherr

Der Abend beginnt schon im Foyer. Und er beginnt skurril. Drei seltsame Reisende mischen sich unter das Publikum, menschgewordene Symbole, wie aus Ort und Zeit gefallen. Savannenfarbige Forscherkluft mit Landkartendekor, steampunkige Pilotenbrille der Doppeldeckerzeit, Rucksack, Tropenhelm mit Propeller. Ihre Gestik ist überzeichnet, ihr Gang mitunter ruckhaft wie der eines Vogels. Sie reihen sich in die Warteschlangen vor der Garderobe ein, prallen gegen imaginäre Glastüren, stellen sich zu Gesprächen dazu, runzeln vor dem Monitor die Stirn, auf dem gerade ein Videoclip von „Rigoletto“ läuft. Die verkörperte Entdeckerlust.

Einem von ihnen werden wir wieder begegnen. In den Pausen, denn die sind gar keine. Einmal geht das Licht zwar kurz an, aber auch schnell wieder aus. Die Saaltüren bleiben zu. Miniatur-Schauspiele füllen die Zeit, in der der Rest der Darsteller sich umzieht. Selbst die Bühnenarbeiter, denen wir minutenlang dabei zusehen, wie sie Bodenfolien ausrichten, glattfegen, abkleben, sind Teil der Inszenierung.

Tanzchef Mauro de Candia setzt in seiner Interpretation der „Vielschichtigkeit unseres Seins unter einem Himmel“ zwar Kontraste, motivisch, stilistisch, aber keine Cuts – alles ist mit allem verwoben. Es ist eine seiner stärksten Osna­brücker Choreographien. Die rund 90 Minuten lange, dreiteilige Reise beginnt, sehr abstrakt, mit „Branco“, zu einem vio­linendominierten Crossover des ungarisch-serbischen Komponisten Félix Lajkó – energiegeladener Balkanfolk mit Einsprengseln von Jazz, Rock, Klezmer, Klassik. Der Mensch, zeigt uns dieser dynamische Auftakt, ist ein Massen-, ein Herdenwesen, sein Platz in der Gesellschaft ist fremdbestimmt, erfordert Anpassung. Die Darsteller, in uniformem Blau, werfen sich gegeneinander in den Kampf, scheitern, sehen sich gleichgeschaltet, kontrolliert, ihre Gefühle sterben. Am Anfang ein einzelner Scheinwerfer, blendend hell, direkt ins Publikum. Dann viel Halbdunkel. Wilde Zuckun­gen, Hebungen, Drehungen, Umschlingungen. Innere Düsternis breitet sich aus.

Dann ein Blitz. Dunkel. Und die erste Pause beginnt, die keine ist. Eine der Reisenden aus dem Foyer arbeitet sich vor den Vorhang, wie durch Felsspalten, wie gegen Orkanböen. Dazu Donnergrollen, das Brüllen eines Erdbebens, später Rotorengeräusch, Stimmen, Tempelgongs, Radiosuchläufe, sekundenkurz eine Lokomotive. Seifenblasen wehen ihr entgegen. Sie weicht ihnen aus, fängt sie, spielt mit ihnen. Und sie hämmert gegen den Vorhang: Geht es hier nun weiter oder nicht?

Der Mensch ist ein Herdenwesen, sein Platz in der Gesellschaft ist fremdbestimmt und erfordert Anpassung

Doch, natürlich. Mit „In Transit“, zu Pianist Keith Jarretts „Köln Concert“. Hier ist der Mensch Individuum. Nicht vereinzelt, aber Einzelwesen. Vielfarbigkeit statt Uniformität. Sensible, emotionale Momente, nicht zuletzt zur Relativität der Zeit. Extreme Langsamkeit, minutenlange Bewegungslosigkeit. Auch hier viel Halbdunkel, Licht zuweilen nur auf einzelnen Schultern, Händen, Köpfen.

Dann die zweite Pause. Die Bühnenarbeiter kommen. Die Reisende rollt an einem Tischchen um sie herum, Globus drauf, dicke Wälzer wie aus uralten Bibliotheken. Wohin man denn jetzt bloß fahren solle? Griechenland? Russland? USA? Oder lieber Italien? Da gebe es so guten Chianti. Ahhja, Chianti! Ob man wohl eben schnell ein Glas bekommen könne? Nein, erst auf der Premierenfeier? Schade, das dauere ja noch ein bisschen. Am Ende lässt sich das savannenfarbige Pilotenbrillenwesen von den Bühnenarbeitern wie eine Requisite entsorgen.

Eine perfekte Überleitung zu „Pachuco“, denn jetzt geht es im Schnelldurchlauf durch die halbe Welt, und das wird so bizarr, so grotesk, wie man es selten sieht bei Mauro de Candia. Wieder geht es um den Menschen als Gruppe. Und die titelgebende mexikanische Jugendkultur aus dem US-Süden der 30er und 40er ist nur eine Metapher. Eine Reisegruppe driftet staunend von Ziel zu Ziel, hintermalt von „O Sole Mio“ bis „Sirtaki“. Fallschirme werden über die Bühne geschleppt. Papierflieger schießen durch die Luft. Jemand hat ein Schiffchen im Schlepptau. Man pustet einander an, denn jetzt haben alle einen Propeller auf dem Kopf. Man redet durcheinander, in vielen Sprachen. Vorhangspielchen: rauf, runter, rauf, runter, rauf. Dazwischen augenblicks­kurze Slapstickpassagen. Einfall auf Einfall, leichthändig, ironisch, und alle funktionieren grandios. Ganz hinten hebt einer der Tänzer kurz die Hand zum Victory-Zeichen – ja, das stimmt, für den ganzen Abend.

Choreographisch, tänzerisch, schauspielerisch ist die Inszenierung eine Ensembleleistung auf hohem Niveau. Sie hat Präzision, Ausdruck, Athletik. Auch, dass de Candia augenzwinkernd Beifall vom Band einspielen lässt, passt perfekt. Der echte ist sowieso lauter, langanhaltender. Und das sehr verdient.

Chef der Dance Company: Mauro de Candia Osnabrück Foto: Uwe Lewandowski/ Theater

De Candia ist als künstlerischer Leiter der Dance Company im Herbst 2012 nach Osnabrück gekommen: Auch wenn seine künstlerische Biographie viele Stationen von Monaco bis Mailand, Lausanne bis Hannover aufweist, ist das hiesige Stadttheater die erste Leitungsposition des jungen Italieners. Da kann nicht alles perfekt sein: Seine moderntänzerische Schwanensee-Adaption 2016 wollte sehr viel, war aber eher ein Reinfall, der zwar bei den Hamelner Tanztagen für Furore sorgte, aber nicht darüber hinaus. Das ist mit dieser Produktion vergessen.

In seiner Heimatstadt Barletta hat Candia den Verein Arte&BallettO gegründet, für Tanzausbildung, eigenes Ensemble „Pneuma Dance Theater“ inklusive; auch das ApuliArte Festival ist dort beheimatet, dessen Gründer er ist. Als Solist war de Candia in Hauptrollen in Choreographien von Tanz-Superstars wie Maurice Béjart Jiri Kylián, William Forsythe oder Mats Ek zu erleben. Dass Osnabrück einen wie ihn hat halten können ist so selbstverständlich nicht.

Was besonders in Erinnerung bleibt von dieser poetischen und kurzweiligen Produktion? Ganz sicher auch dieser letzte Augenblick, als von oben die Luftballons kommen, zu Vera Lynns „Auf Wiederseh’n, Sweetheart“. We’ll meet again? Ganz sicher. Spätestens beim nächsten Tanzabend von Mauro de Candia.

Nächste Vorstellungen: 9., 11.,+ 16. 2., jeweils 19.30 Uhr; 18. 2, 15 Uhr, Theater Osnabrück