DGB-Landeschef über seine Flucht: „Mit 40 Pfennig nach Dänemark“

Mehrdad Payandeh floh aus dem Iran, arbeitete in Deutschland erst im Quelle-Lager und ist jetzt Chef des DGB in Niedersachsen und Bremen.

Ein Mann mit kurzen grauen Haaren, schwarzer Brille und Anzug steht in einem Raum, dessen Möbel von Klarsichtfolie verhüllt sind.

Sein Büro wird noch renoviert: DGB-Landeschef Mehrdad Payandeh Foto: Helge Krückeberg

Herr Payandeh, wie erleben Sie beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) Alltagsrassismus?

Mehrdad Payandeh: Eigentlich gar nicht. In meinem Arbeitsumfeld sind Menschen, die sich gegen Rassismus engagieren. Entsprechend hatte ich nie das Gefühl, dass ich ein anderes Wesen wäre, eine Art ausländischer Alien.

Kaum zu glauben, dass es solche Probleme beim DGB nicht gibt.

Ich habe gerade über meine Kolleginnen und Kollegen gesprochen. Ich weiß nicht, ob ein Zuhörer rassistisch denkt, wenn ich irgendwo einen Vortrag halte. Aber ich weiß, dass acht Prozent der Gewerkschaftsmitglieder in Niedersachsen AfD gewählt haben.

Warum ist es so ein großes Ding, dass Sie als Migrant in Deutschland Chef geworden sind?

Es zeigt, dass sich diese Gesellschaft geöffnet hat. Es gibt Aufstiegschancen für diejenigen, die eine andere Herkunft haben – auch wenn sie wie ich in der ersten Generation hergekommen sind. Es ist positiv, dass die deutschen Gewerkschaften hier eine Vorreiterrolle spielen. Wenn ein Geflüchteter DGB-Chef wird, zeigen wir den Rechtspopulisten die Stirn.

57, wurde in Abadan im Iran geboren und floh als 24-Jähriger von dort über die Türkei nach Deutschland. Er studierte in Hamburg Wirtschaftswissenschaften und machte in Bremen seinen Doktor. Im Berliner DGB-Bundesvorstand leitete er die Abteilung Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik, bis er Anfang Februar zum neuen Chef des DGB-Landesverbandes von Niedersachsen, Bremen und Sachsen-Anhalt gewählt wurde. Payandeh ist SPD-Mitglied.

Warum sind Sie im Sommer 1985 aus dem Iran geflohen?

Die Universitäten waren dicht. Ausreisen durfte niemand. Der Iran war praktisch ein großes Gefängnis ohne Möglichkeiten. Also wurde ich Saisonarbeiter und habe beim Bau von Großanlagen mitgearbeitet. Wir gehörten nicht zur Stammbelegschaft und sollten deshalb kein Weihnachtsgeld bekommen.

Weihnachtsgeld im Iran?

Es gibt beim iranischen Neujahrsfest auch so etwas wie Weihnachtsgeld, eine jährliche Sonderzahlung. Das haben alle bekommen. Aber sie wollten es den Saisonarbeitern vorenthalten und es in die eigene Tasche stecken. Wir haben dagegen gestreikt und ich gehörte zu den Anführern. Wir haben eine Gruppe gegründet, ähnlich wie ein Betriebsrat.

So etwas durfte es im Iran nicht geben?

Nein. Es gab und gibt nur islamische Betriebsräte. Die sind Augen und Ohren des Regimes. Freie Betriebsräte aus einer Bewegung heraus darf es nach den Vorstellungen des Regimes nicht geben. Wir haben uns tatsächlich durchgesetzt und das Geld bekommen. Aber weil da etwas außer Kontrolle geraten war, war klar, dass das Regime das nicht dulden wollte.

Und wie haben Sie mitbekommen, dass es für Sie gefährlich wird?

Wir wurden gesucht. Es gab zum damaligen Zeitpunkt sogenannte Revolutionskomitees. Die patrouillierten überall, verfolgten Frauen, die geschminkt waren oder Männer, wenn sie kurzärmelige T-Shirts trugen. Das war ein totaler Überwachungsstaat. Mein Vater war mein Chef. Weil er gestorben ist, kann ich es jetzt locker sagen: Er hat uns immer Informationen weitergeleitet. So wussten wir, wie gegen uns vorgegangen wurde.

Was sollte passieren?

Also eine Verhaftung auf jeden Fall. Die Begründung war gar nicht unser Streik, sondern es hieß dann, wir seien konterrevolutionär oder der verlängerte Arm der CIA.

Wann haben Sie sich zur Flucht entschieden?

Als Mitte der 80er-Jahre die Grenzen geöffnet wurden und wir ohne Visum in die Türkei einreisen durften, haben sehr viele Menschen das Land verlassen. Als ich erfahren habe, dass es langsam eng wird, habe ich meinem Vater gesagt, dass ich zwei Wochen Urlaub brauche. Ich konnte ihm nicht den wahren Grund sagen.

Warum nicht?

Wissen Sie, über Fluchtpläne redet man nicht mit vielen. Man entscheidet sich und geht. Wenn jemand zu viel debattiert, gefährdet er sein Leben. Es gab schon richtige Repression im Iran. Verwandte von mir wurden hingerichtet. Es war klar, man redet mit niemandem, wenn man so etwas plant.

Was haben Sie mitgenommen?

Fast nichts. Eine Jeans, ein Hemd mit blauen Karos und ein paar Sachen, die man zu Geld machen konnte: Iranischen Kaviar, eine goldene Uhr. Das habe ich rausgeschmuggelt.

Was war ihr Ziel?

Erst mal hatte ich kein Ziel. Ich wollte nur raus aus dem Iran, weil ich Angst um mein Leben hatte. Bei meiner Flucht war mein Cousin dabei. Er hatte eine Greencard für die USA. Wir sind zusammen mit dem Bus zur türkischen Grenze gefahren. Eine lange Strecke. Damals war an jeder Autobahn alle paar Kilometer eine Kontrollstation. Dann sind die Beamten in den Bus gekommen und wenn sie jemanden verdächtigt haben, musste man aussteigen und sich durchsuchen lassen.

Ist Ihnen das passiert?

Mein Cousin, der Blödmann, konnte sich überhaupt nicht verstellen – und es war mein Leben gefährdet, nicht seines. Er durfte ja ausreisen. Aber jedes Mal hat er so komisch geguckt und wurde dann rausgezogen. Und dann hat er hat auch noch gesagt: „Das ist mein Cousin“ und ich musste mit raus. Ich war so erleichtert, als wir endlich an der türkischen Seite ankamen. Ich hatte Tränen in den Augen, weil es geklappt hat – und war gleichzeitig total sauer auf meinen Cousin.

Und dann?

Ich bin einen Monat in Istanbul geblieben, habe dann aber gemerkt, dass es dort keine Möglichkeit für mich gibt, weil es ein Auslieferungsabkommen zwischen der Türkei und dem Iran gab. Also musste ich weiter. Ich beschloss, über Ostberlin mit der Fähre nach Dänemark zu reisen.

Warum sind Sie nicht bis Dänemark gekommen?

Weil die Ostdeutschen kaum Englisch konnten. Ich habe Leute nach dem Weg gefragt und kein Wort verstanden. Irgendwann habe ich jemanden gefunden, der mir aufgeschrieben hat, welches Ticket ich kaufen muss. Im Ostbahnhof hieß es dann 40 Pfennig. Ich war Linker und dachte, das nennt man Sozialismus. Da kannst du mit 40 Pfennig nach Dänemark. Ich kam damit bis in die Friedrichstraße nach Westberlin.

Wie war das Leben in einer Flüchtlingsunterkunft?

Später, in Karlsruhe war ich in einer großen Sammelunterkunft untergebracht. Es war nicht angenehm, weil so viele Menschen dort waren. Es ist laut. Man versteht die Sprachen nicht und ist alleine. In Ludwigsburg war es noch schlimmer.

Warum?

Der Chef des Wohnheims hat alle schikaniert. Wir mussten immer fegen, wurden herumkommandiert. Das war wie im Gefängnis. Wenn man Nein gesagt hat, hat er eigenmächtig unser Taschengeld gekürzt. Da habe ich einen Streik in der Unterkunft angezettelt. Danach hat sich die Lage dort ein bisschen verbessert.

Wie ging es für Sie weiter?

Ich durfte anderthalb Jahre lang gar nichts machen. Tote Hose. Du siehst, dass alle anderen arbeiten gehen und ein aktives Leben haben. Das ist frustrierend. Ich habe Deutsch gelernt und wollte studieren. Aber mein Abitur, wurde nicht anerkannt. Eine Begründung gab es nicht.

Was haben Sie stattdessen gemacht?

Unnötigerweise eine Umschulung zum Datenverarbeitungskaufmann. Da hat man mich reingedrängt. Zwei Jahre verlorene Zeit. Dann habe ich vier Jahre als Lagerarbeiter bei Quelle gearbeitet. Erst dann habe ich über die Jusos und Gewerkschafter erfahren, dass ich in Hamburg über den zweiten Bildungsweg studieren kann. Ich wäre nicht von alleine auf die Idee gekommen, dass mir ein anderes Bundesland die Möglichkeit gibt, zu studieren.

Haben Sie aufgrund Ihrer eigenen Fluchtgeschichte einen besonderen Blick auf die Situation von Geflüchteten in Deutschland?

Nein. Ich bin seit 33 Jahren hier. Das sind Anekdoten aus meiner Biografie, aber in meinem Alltag bin ich Ökonom und Gewerkschafter.

Nervt es Sie, dass Sie, seitdem Sie DGB-Chef sind, ständig wieder auf Ihre Fluchtgeschichte angesprochen werden?

Ein bisschen ja. Ich habe das Kapitel abgeschlossen. Ich habe es nie gemocht, wie ein Ausländerbeauftragter behandelt zu werden. Das empfinde ich als Stigmatisierung. Ich bin Teil dieser Gesellschaft und ich möchte als jemand wahrgenommen werden, der sich für alle sozial benachteiligten Menschen einsetzt. Nicht nur für Geflüchtete. Ich habe mehr zu bieten als eine exotische Vergangenheit.

Sie wurden mit 99 Prozent zum Landesvorsitzenden gewählt. Macht Ihnen so ein Wert als langjähriges SPD-Mitglied Angst?

Zum Glück sind es keine 100 Prozent. Aber das ist schon ein sehr großer Vertrauensvorschuss und damit sind Erwartungen und Verantwortung verbunden.

Haben Sie ein konkretes Projekt, das Sie angehen wollen?

Niedersachsen ist ein Bundesland, das ökonomisch sehr stabil ist. Wir haben ein gutes Schulsystem, sehr gute Indus­trie und innovative Zentren. In den Schlagzeilen geht es aber um den Missbrauch von Werkverträgen und Menschen, die zusammengepfercht und in der Fleischindustrie ausgebeutet werden. Solche Unternehmen machen aber nur einen Bruchteil der niedersächsischen Wirtschaft aus.

Aber ist es nicht Ihre Aufgabe als Gewerkschaft, auf solche Probleme hinzuweisen?

D’ac­cord. Ich möchte gemeinsam mit den Unternehmen, die gute Arbeit schaffen, die Mitbestimmung achten und sich an Tarifverträge halten, ein Bündnis bilden gegen diejenigen, die unfairen Wettbewerb wollen. Ich möchte gute Arbeit zum Markenzeichen Niedersachsens machen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.