Fragwürdige Folklore

Sergei Loznitsas „Victory Day“ („Den pobedy“) schaut erbarmungslos genau hin,wenn am Ehrenmal im Treptower Park der Sieg der Roten Armee gefeiert wird (Forum)

Unverkennbares Gestein. Ansicht des Ehrenmals aus Sergei Loznitsas „Victory Day“ Foto: Stills: Imperativ Film/Berlinale

Von Barbara Wurm

Postkommunismus – das war etwas, was uns lange Zeit schön nicht berührte. Eine Sache der Länder des Ostblocks. Im hippen Berlin des vereinten Deutschland irgendwie kein Thema, und wenn, ein rein theoretisches – Boris Groys, Slavoj Žižek und Co. füllten einst das Café Moskau auf der Karl-Marx-Allee. Damals stimmte noch alles, Suhrkamp, linke Theorie, der coole Osten im Westen. Mit den ordenbehängten Veteranen oder den tschapkabemützten Babuschkas, die damals schon, Jahr für Jahr, am Tag des Sieges zur Rote-Nelken-Niederlegung vor dem Sowjetischen Ehrendenkmal im Treptower Park schritten, den Kasatschok tanzten und zur Kalinka schunkelten, hatte das wenig zu tun. Überhaupt nahm man die vielen Russen in Berlin kaum besonders wahr. Kaminer, Russendisko, das war’s dann schon.

Sergei Loznitsa, sozialisiert in Kiew und Moskau, seit 2001 in Deutschland lebend und das seit einiger Zeit in Berlin, scheint jener Verharmlosungsignoranz ein Ende bereiten zu wollen. Und er verbindet dieses Unterfangen mit einer subtilen Stalinismus-Kritik. Sein neuester Film „Victory Day“ („Den pobedy“) – mit für ihn typisch langen, präzis kadrierten Einstellungen, ohne Off-Kommentar, dafür mit filigraner Tonmontage – beobachtet das Treiben am 9. Mai 2017 im Treptower Park. Gefeiert wird, 72 Jahre später, der Sieg der Roten Armee über Nazi-Deutschland. Junge Männer in Militäruniformen prägen zunächst das Bild, untermalt von einem Lied, das aus der Kriegszeit zu stammen scheint, eigentlich aber erst 1975 von Bulat Okudschawa, einer zentralen (auch in Ostberlin populären) Figur des oppositionellen Tauwetters geschrieben wurde. „Pack deinen Mantel, lass uns nach Hause gehen“ … Eine Kriegsheimkehr der unheroischen Art besingt es.

Dass das aktuelle Ritual einen ungehemmteren Umgang mit dem Heldentum pflegt, ist nur ein Aspekt der Feierlichkeiten, der leichtes Unbehagen bereitet. Dazu kommt eine brisante Mischung von Besucher*innen, die die eigentlichen Akteure des Geschehens sind. Stalin als dem obersten Helden wird auf einem kleinen Wägelchen gedankt, das von zwei niedlichen Hunden gezogen wird – was zunächst schlicht skurril ist. Doch die geschmückten Haustiere oder die in Soldatenuniform gesteckten kleinen Kinder sind es nicht, die irritieren. Selbst die in den Bereich der Verschwörungstheorie gehörende Mahnwache der Staatenlos-Info-Leute, die nach Treptow gekommen sind, kennt man schon: Dass sie den historischen Feiertag für ganz eigene Zwecke nützen, ist auch vielen normalen Feiernden klar. Eine kleine Delegation ist sogar aus Kasachstan angereist: Folklore eben.

Bedenklich wird das Ganze, wenn der Hügel vor dem Soldatendenkmal und damit das Festbild von Männern mit schwarzen Lederjacken (zwischen neomilitant ausrasiert und ultraorthodox langbärtig) dominiert wird und das etablierte Sowjetfahnenmeer von Flaggen ganz anderer Couleur überladen wird – jenen der Russischen Föderation, der „Donezker Republik“ oder direkt der „Nachtwölfe“. Das Auftreten des berüchtigten Bikerklubs und seiner Fans hat so hohen Krimeroberer-Patriotismus-Faktor, dass die vorgebliche Antifaschismus-Message des Festtages endgültig ad absurdum geführt wird. In diesem Kontext kann man das Sankt-Georgs-Band, das hier quasi jeder trägt, nur in seiner mehr als ambivalenten Bedeutung lesen: Aus dem sowjetischen Gardebanner des Zweiten Weltkriegs ist spätestens seit dem Ostukraine-Krieg ein zentrales Nationalsymbol der mal russländischen, mal russischen Sache geworden.

Eine Delegation der Feiergesellschaft ist sogar eigens aus Kasachstan angereist

Doch die unheilvolle Sprengkraft des Postkommunismus hat nicht nur auf der Krim und im Donbass Spuren hinterlassen, die in Berlin-Treptow, wie dieser Film zeigt, kulminieren. Angesichts einer halb russischen, halb deutschen Fahne, in dessen Zentrum die beiden Staatsadler zu einem spooky Zwitter verschmelzen, schreitet ein aufrechter Ex-DDR-Bürger ein: Er verstehe nicht, was die Bundesrepublik mit dem Antifaschismus zu tun habe, es seien doch die Faschisten gewesen, die deren Militär wiederaufgebaut haben. Erklären die Berlin-Russen: „Aber BRD doch auch liebes Volk. Oder alle Faschisten?“ PS: „Andere Mentalität“. „Von deine Seite blöde Frage!“

Immer wieder sucht die Kamera Erholung von diesem ideologischen Kauderwelsch und findet sie in der Detailbetrachtung des Ehrendenkmals. Doch auch hier kreiert Loznitsa Textpassagen und Bilder mit historischer Ambivalenz und einem Selbstaussagewert, der erst bei längerem Hinsehen erkenntlich wird – und bis zuletzt Sache des Betrachters bleibt. Wir müssen hinsehen, wir sollen nachdenken, wir dürfen streiten. In diesem Sinne ist „Victory Day“ eine bewusst streitbare Einladung, das Gestern im Heute zu reflektieren. Ein Film auf hoch intellektuellem wie auch formal hohem Niveau.

21. 2. 13.45 Uhr CineStar 8, 23. 2. 15.30 Uhr Akademie der Künste, 25. 2. 20 Uhr, Colos­seum 1