Dreifacher Wurfaxel in 3-D

Um bei den Olympischen Spielen erfolgreich zu sein, lassen sich Profisportler digital vermessen. Ein Besuch auf dem Trockenübungsplatz – im Institut für Angewandte Trainingswissenschaft

Den dreifachen Wurfaxel springt kein anderes Paar der Welt, er muss sitzen in Südkorea. Aljona Savchenko und Bruno Massot üben in Leipzig

Aus Leipzig Jens Uthoff

Als Kati Witt im Oktober 1984 den dreifachen Rittberger wieder und wieder übte, da lagen die Dinge noch etwas anders. Karin Knoll arbeitete damals als Videoanalystin für den DDR-Eiskunstlaufstar, es war der allererste Auftrag der jungen Sportwissenschaftlerin. Um die Sprünge mit der Kamera aufzuzeichnen, arbeitete man noch mit Filmrollen. Aus Zelluloid. 8 Millimeter.

„Das Ziel war es, dass Kati diesen Sprung bis zur WM 1987 draufhat“, erinnert sich Knoll. „Wir hatten damals zwei unbewegliche Kameras in der Eishalle. Der Sprung musste in einem sehr engen Sektor auf dem Eis gelingen, damit er im Kamerabereich war. Und wir hofften, dass der Film nicht riss oder gerade dann gewechselt werden musste, wenn Kati den besten Sprung hinlegt.“

33 Jahre später geht es in Knolls Job immer noch um Sprunganalysen und Videoaufzeichnungen. Nur haben sich in der Zwischenzeit technische Revolutionen ereignet, die ihr die Arbeit erleichtern. „Es fängt damit an, dass wir heute die ganze Eisfläche bis in den letzten Winkel digital vermessen. In der Regel haben wir drei flexible Kameras dabei, die die Athleten filmen.“ Es folgt eine 3-D-Analyse: Man kann sich die Sprünge aus allen Perspektiven anschauen, auf bestimmte Körperpunkte klicken und sie heranzoomen, Arm- und Beinhaltung überprüfen.

Auch Knolls Arbeitsplatz ist noch an gleicher Stelle. Die heute 62-Jährige arbeitet im Institut für angewandte Trainingswissenschaft (IAT) in Leipzig, das in einem schmucklosen grünen Funktionsbau im westlichen Zentrum der Stadt untergebracht ist und inmitten eines Sportcampus liegt. Hier war schon die Vorgängerinstitution, das Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) beheimatet, das damals Athletinnen wie Kati Witt betreute. Es erlangte zweifelhafte Berühmtheit, weil das Staatsdoping von hier maßgeblich gefördert wurde. Nach der Wende sollte ein Neuanfang her, aus dem FKS ging 1992 das IAT hervor.

Was schlecht ist, was gut ist – das sehen die Trainer heute fast unmittelbar auf dem Bildschirm

Als Forschungseinrichtung ist das IAT eine für den deutschen Sport unverzichtbare Institution. Hier werden neue Technologien zur Trainings- und Wettkampfanalyse entwickelt, Trainingsinhalte und -methoden im Spitzensport verändert, verfeinert, verbessert. Im Wintersportbereich ist das IAT in erster Linie für die nordischen Disziplinen zuständig. All die Skispringer, Biathleten, Langläufer des deutschen Teams, die nun bei den Olympischen Spielen in Pyeongchang am Start sind, haben sich hier beraten lassen.

Die digitale Transformation hat dabei die Arbeit am IAT grundlegend verändert. „Wir stellen fest, dass die Zahl der Anfragen nach Software und Hardware deutlich nach oben geht“, sagt Ina Fichtner. Fichtner, 39, ist so etwas wie die Technikchefin des IAT. Sie leitet den MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik), mit 24 Mitarbeitern die größte Abteilung am IAT. Angeschlossen ist eine Werkstatt, in der Trainingsgeräte gebaut und Computerprogramme entwickelt werden. „Sportartspezifische Software-Lösungen“, wie das im PR-Sprech der Leipziger Sporttechnikschmiede heißt. Damit meint man zum Beispiel auf Sportarten zurechtgeschnittene Datenbanken oder Messinstrumente.

Aber woher wissen Fichtner und ihre Mitarbeiter, was das Beste für den Athleten ist und welche technischen Trainingshilfen der Sportler braucht? Entscheidend dafür ist der Austausch zwischen Trainern, Mitarbeitern der Landesverbände und der Olympiastützpunkte (an denen die Sportler ebenfalls trainieren): Sie alle beraten sich, sie alle bestimmen mit, welche Trainingsmethoden am sinnvollsten sind, welche Geräte man braucht.

Die Anforderungen an Fichtners Abteilung sind dabei sehr unterschiedlich. „Es kann zum Beispiel darum gehen, Wearables mit spezifischer Programmierung für eine Sportart zu entwickeln. Es kann aber auch um die Analyse von Software oder um Big-Data-Analysen gehen.“ Sie glaubt, dass heute die Nuancen im Profisport bedeutender geworden sind: „Es gibt eine extrem hohe Leistungsdichte im Spitzensport. Manchmal kann schon eine kleine Idee viel bewirken und den Unterschied ausmachen.“ Eine Idee, die in Leipzig entwickelt wurde und die heute Skispringer aus aller Welt nutzen, ist etwa ein Chip, der in einer kleinen Dose hinter die Bindung der Skier montiert wird. Der Chip ermittelt, welche Anlauf- und Absprunggeschwindigkeit, welche Flughöhe ein Springer hat, welchen Anstellwinkel die Skier im Flug haben.

An den Chips bei den Skispringern zeigt sich, dass man die Ideen oft nicht lange exklusiv hat. Neue Entwicklungen sprechen sich herum, nicht zuletzt, weil die Trainer im Laufe ihrer Karriere oft für verschiedene internationale Verbände tätig sind und ihr Know-how im- und exportieren. Was das Skisprungtraining betrifft, sei man angehalten, nicht unbedingt über die technischen Neuerungen zu plaudern, sagt Kerstin Henschel, die für die Öffentlichkeitsarbeit des IAT zuständig ist. Denn natürlich wollten die nationalen Verbände den anderen technologisch einen Schritt voraus sein.

Mindestens so wichtig wie das Training: die Analyse danach Fotos: Institut für Angewandte Trainings­wissenschaft

Im Ergometriezentrum, dem Maschinenraum des Hauses, setzt Axel Schürer ein Laufband in Gang. Schürer, promovierter Sportwissenschaftler, ist Leiter des Bereichs Skilanglauf. Das Laufband, vor dem er steht, etwa drei mal zwei Meter, hat mit jenen, die man aus dem Fitnessstudio kennt, wenig gemein. Die Langläufer machen darauf Belastungstests mit Rollskiern. Es ist umgeben von Kameras, Kabeln, Bildschirmen und Messinstrumenten. Gesichtsmasken aus Weichplastik liegen in Griffweite, mit ihnen kann man den Sauer- und Stickstoffgehalt in der Atemluft messen.

„Man kann das Band auch kippen.“ Schürer drückt eine weitere Taste, das Band fährt hoch wie eine Klappbrücke. So werden die Steigungen auf den Strecken simuliert, „bis zu zwölf Prozent können wir gehen.“ Eine Sensation war ein solches Band vielleicht vor mehr als vierzig Jahren – was aber hat sich durch die Digitalisierung geändert? „Wir simulieren damit heute komplette Strecken, die wir im Computer gespeichert haben“, erklärt Schürer. „Nur Kurven kann das Laufband nicht – bei uns geht es immer geradeaus.“

Die Arbeit der Trainer habe den größten Wandel erfahren, glaubt der 39-Jährige. „Du bringst die Informationen heute viel schneller an den Athleten. Die Trainer stehen mit ihren Tablets an der Loipe, und die Aufzeichnungen der Kameras werden direkt in ihre Programme übertragen“, erklärt er. Zu langsamer Pace, zu flache Atmung, zu schwacher Beinabstoß: Was schlecht ist, was gut ist, das sehen die Trainer fast unmittelbar auf dem Bildschirm. Apps wie Dartfish oder Coach’s Eye erleichterten die Auswertung. Dank der Datenmasse könne ein Trainer genau erkennen, wo er ansetzen, welcher Trainingsbereich intensiviert werden müsse.

Gegenwärtig und in der Zukunft, so Pressechefin Henschel, gehe es aber auch darum, effektive Systeme zum Filtern diese Daten zu entwickeln. „Die Aufgabe ist auch ein Stück weit, Ordnung in die Datenflut zu bringen, die wichtigen Werte von den unwichtigen zu trennen“, sagt sie.

Welche Parameter für ihre Athleten wichtig und unwichtig sind, weiß Karin Knoll kurz vor den Olympischen Spielen sehr genau. Knoll arbeitet heute noch immer mit Goldkandidaten zusammen, sie heißen Aljona Savchenko und Bruno Massot, und sie sind Mitfavoriten im Paarlauf in Pyeong­chang. Der dreifache Wurfaxel ist das große Thema. Kein anderes Paar der Welt springt ihn. Er muss sitzen in Südkorea. Zu Trockenübungen kam das Eislaufduo vergangenes Jahr nach Leipzig. Die Wurfaxelprobe fand in der Trainingshalle statt, wieder und wieder schmiss Massot die Partnerin in eine mit Schaumstoffquadern gepolsterte Grube. Gemeinsam mit Knoll werteten sie die Sprünge im Anschluss aus: das Drehmoment, die Rotation, die Körperhaltung.

Die Vermessung des Sports, sie wird weitergehen, aber ohne Karin Knoll. Ein paar Jahre noch, dann geht sie in Rente. Bei Kati Witt hat es damals geklappt mit dem Dreifach-Rittberger. Nun wird Knoll auf den Wurfaxel warten, wenn Savchenko und Massot in der Nacht zu Donnerstag in Pyeongchang aufs Eis gehen. „Ich hoffe, dass sie ihn springen werden, und ich hoffe, dass er gut gelingt.“ Für Knoll schlösse sich mit einem Erfolg der beiden ein Kreis: „Wenn Aljona und Bruno Olympiasieger werden, wäre das ein schöner Abschluss für mich.“