Immer wieder sang Freddy

Zurück in die frühen 1970er-Jahre, wo einsame Menschen des nachts Gemeinschaft suchten: Freelens zeigt die Fotos des Schweden Anders Petersen aus dem Cafe Lehmitz

Kiezgestalten unter sich: Wer man war, war egal, hauptsache, man war echt Foto: Anders Petersen

Von Frank Keil

Gleich nach seiner Ankunft in Hamburg ging Anders Petersen nach St. Pauli, streifte über die Reeperbahn, sah sich um: „Ich habe mich sehr in meinen Gedanken verloren; das meiste kannte ich wieder, aber vieles hat sich doch sehr verändert“, sagt er. Was auch kein Wunder ist: seine Fotoarbeit „Café Lehmitz“ über die gleichnamige so genannte Stehbierhalle entstand vor mehr als gut 45 Jahren.

Kennengelernt hat Petersen diese Lokalität 1962 – als der 1944 bei Stockholm geborene Schwede auf Wunsch seiner Eltern nach Hamburg kam, um Deutsch zu lernen und um vielleicht auf eine Idee zu kommen, was er vernünftigerweise beruflich machen kann. Immer öfter ist er im Café Lehmitz Gast, das, wenn dessen Wirt es will, rund um die Uhr geöffnet hat und wo man nicht selbstverständlich sein Bier aus Gläsern trinkt.

Er geht zurück nach Schweden, versucht es mit Schreiben, versucht es mit Malen, aber einsam vor der Staffelei zu hocken, kann ihn nicht dauerhaft begeistern. Und er beginnt ein Studium bei dem bekannten schwedischen Fotografen Christer Strömholm, reist immer wieder während des Zeitraumes von 1968 bis 1971 nach Hamburg, geht im Lehmitz ein und aus. Und fotografiert.

Petersen zeigt auf ein Foto seiner Lehmitz-Arbeit, die in den frisch hergerichteten, neuen Räumen des Fotoberufsverbandes Freelens hängt, auf dem vier junge Männer in kurzen Lederjacken zu sehen sind. „Sie nannten sich ‚Die Gang‘“, beginnt er zu erzählen. „Sie haben sich mit 13, 14 Jahren kennengelernt, blieben befreundet und gingen nun jeden Abend los, Leute abzuziehen, also auszurauben.“ Erst auf der Reeperbahn und in den umliegenden Straßen, dann drüben beim Park um das Bismarckdenkmal herum und bis runter zur Elbchaussee. „Und zwischendurch machten sie für eine Stunde eine Pause, kamen ins Lehmitz, tranken ein Bier, redeten ein bisschen und zogen wieder los.“ Petersen sagt: „Jeder im Lehmitz wusste, was sie taten, aber moralisch hatte damit niemand ein Problem, es war eben so.“

Fantastische Leute

Hat er selbst Angst gehabt, dass ihm mal was passieren könnte? Dass er an die Falschen gerät, dass man in ihm einen Eindringling sieht? Der noch dazu fotografiert! Er schüttelt entschieden den Kopf. „Nie! Die Leute im Lehmitz waren fantastisch, sie waren sehr, sehr freundlich. Es war erlaubt, der zu sein, der man ist. Ob man traurig war, angeschlagen, aufgedreht, mitgenommen – wenn man sich so zeigte, wie man war und wer man war, dann wurde man akzeptiert“, sagt er. Manchmal hat er sich auch Richtung des frühen Morgens auf eine der schmalen Bänke gelegt und geschlafen.

Die beste Zeit sei so um ein Uhr in der Nacht gewesen, erinnert er sich. „Da war es voll von Leuten, keiner ging, man redete miteinander, man tanzte, man blieb zusammen, so ging das bis vier, fünf Uhr am Morgen.“ Er sagt: „Eigentlich müsste man beim Betrachten meiner Bilder die Musik hören, die aus der Musikbox tönte: Chuck Berry, Little Richard, Fats Domino natürlich und die Stones und immer wieder – Freddy!“

Zwischendurch kehrt Petersen nach Stockholm zurück, entwickelt seine Fotos, bespricht sie mit seinem Mentor Strömholm; nimmt die Abzüge mit nach Hamburg, fragt nun seine Protagonisten nach deren Meinung und Einschätzung. Und fotografiert weiter.

Dazu passend die Anekdote seiner viertägigen Lehmitz-Ausstellung zum Abschluss dieser Zeit: Er pinnt gut 350 seiner Fotos an die Wände des Lokals. Wer sich auf einem der Bilder erkennt, darf es abnehmen und behalten. Am Ende sind die Wände leer. 1978 erscheint das heute legendäre, gleichnamige Fotobuch bei Schirmer/Mosel, das immer noch erhältlich ist und das vermutlich im kommenden Jahr eine erweiterte Neuauflage erfahren wird. Arbeitstitel: die Lehmitz-Family.

Petersen bleibt fotografisch geradezu eisern im Lehmitz, wenn man reinkam, rechts die langgestreckte Theke, ihr gegenüber und am Ende des Schankraumes die kleinen Tische mit den Bänken an der Wand und den Stühlen vor den Tischen. Viel auch stand man einfach herum, Bierdeckel und Zigarettenkippen auf dem Boden und zwischen den Menschen wabert der Zigarettenrauch. „Es war eine eigene Welt, und was draußen war, das hatte keinen Einfluss“, sagt er. Man musste das Lehmitz schon verlassen, die Tür hinter sich fest zu ziehen, um in der anderen Welt zu sein.

Einsame Menschen

Und Anders Petersen geht von Bild zu Bild, zeigt auf einen Mann, der sein Gesicht tief in das Fell eines strubbeligen Mischlings vergraben hat: „Das ist Manfred, einer meiner ersten Freunde im Lehmitz. Er liebte Hunde, wie man auf dem Bild sieht. Und er liebte Ramona, die eigentlich Karl-Heinz hieß.“ Geht rüber zu einer Dreier-Serie, auf der wir Ramona sehen, in einem Blumenhemd, dazu ein schwarzer Schlips, das Haar hochtoupiert. „Sie hatte mit 19 Jahren beschlossen, dass sie kein Mann mehr sein wollte, und also hat sie Schritt für Schritt ihr Geschlecht geändert.“ Ramona arbeitete damals in der Roxy Bar in der Großen Freiheit als Stripperin. „Tony Curtis hat sie da gesehen und sich sofort in sie verliebt! Also das hat Ramona uns erzählt“, sagt Petersen.

„Die Menschen, die sich hier trafen, waren alle sehr einsam, sehr verlassen – aber sie wollten zusammen sein, und sie kannten sich untereinander gut“, sagt Petersen und beschreibt damit ein scheinbares Paradoxum, das sich einem beim Betrachten der Bilder aufdrängen kann: tiefe Einsamkeit und entschiedenes Zusammengehörigkeitsgefühl, ihre gleichzeitige Anwesenheit ist in dieser fotografischen Langzeitdokumentation sehend zu erleben.

Gerda aus München ist so verewigt und Großmutti-Hamburg; dazu Schunkel-Madame, die einen Bäcker aus Ost-Berlin geheiratet hat; der Kleinwüchsige mit der Schiebermütze, den sie alle „der Zwerg“ nannten und Mona aus Cuxhaven, die vor ihren Eltern abgehauen war und nun als Prostituierte arbeitete. Petersen führt zu einer Serie, die sich einer Frau widmet, die hingebungsvoll tanzt, sodass Bild nach Bild ihr anfangs etwas kantiges Gesicht weich und weicher wird. „Das hier ist Marlene, sie hatte drei Kindern von drei Männern; sie hieß ganz anders, wurde aber von allen Marlene genannt, wohl nach Marlene Dietrich.“ Und Petersen muss einen kurzen Moment innehalten, muss überlegen, wie sie wirklich hieß, sagt dann: „Herta!“

Er zeigt auf eine Frau in einer karierten Jacke, die ihn skeptisch anschaut: „Rose war eine zornige, junge Frau. Sie sprach mich eines Abends an: ‚Warum musst du dauernd fotografieren? Kannst du nicht einfach hier sitzen und ein Bier trinken wie alle anderen auch?‘“ So kamen sie ins Gespräch, und er erfährt von Roses Leben und auch dass Rose sehr an Lily interessiert ist – Tom Waits wird das Porträt der beiden später für ein Plattencover wählen.

Ein hartes Leben

Das ist also alles lange her. Und die Gefahr liegt nahe, die Bilder, die uns Petersen jetzt noch einmal zeigt, heute aus Bequemlichkeit zu romantisieren und zugleich ihre schlichte Kunstfertigkeit zu bewundern, ihre Konzentration, ihre Geschlossenheit, ihre beeindruckende Konsequenz. Erst recht weil sich uns eine St.-Pauli-Welt zeigt, die fast restlos verschwunden ist; in der sich noch nicht wie heute das wohlfeile Mittelschichtsmilieu festgesetzt hat, dass die Eigensinnigkeiten der subproletarischen Welt gerne konsumiert und sich mit ihnen schmückt, ohne sich in ihrem Kern davon irritieren und beeinflussen lassen zu wollen. „Ich selbst werde sehr sentimental, wenn ich die Bilder betrachte“, sagt Petersen. „Ich denke dann darüber nach, was passiert ist und ob die Menschen noch am Leben sind.“ Er sagt: „Wahrscheinlich sind sie es nicht. Die meisten müssten gestorben sein. Es war ein hartes Leben.“

Bis 28. März, Freelens Galerie, Alter Steinweg 15, Hamburg