Ein Oblomow für die Gegenwart

Im Bett liegen und das unspannende Leben aushalten lernen: Für den Theaterautor und Hörspielregisseur Michel Decar scheint das nicht nur gut zu funktionieren, sondern auch zu witzigen Texten zu führen

Michel Decar bei der Arbeit im Hörspiel­studio des Deutschlandfunks Foto: Deutschlandradio/René Fitzek

Von Sascha Ehlert

Ein gern benutztes Wort in Theaterkritiken zu Stücken von Michel Decar ist, sie seien „atemlos“ getextet. Der schreibende Mensch hinter Stücken wie „Schere Faust Papier“, uraufgeführt 2016 in der Regie von Ersan Mondtag am Hamburger Thalia Theater, ist allerdings nicht unbedingt ein Schnellsprecher. Im Gegenteil.

Beim Reden trägt Decar stets ein leichtes, wirklich nur ein leichtes Lächeln im Gesicht. Er antwortet langsam und macht immer wieder Pausen, in denen er, was er als Nächstes sagt, gedanklich vorbereitet. Man hat hier, denkt man, einen Menschen vor sich, der die Ruhe der Schreibstube mehr schätzt als die geschäftige Hektik, die oft an großen Stadttheatern herrscht.

Nichtsdestotrotz hat man Michel Decar, oder besser gesagt: seine Texte, in den letzten Jahren vor allem am Theater kennenlernen können. 1987 in Augsburg geboren, ging Decar nach seinem Studienbeginn in München an die Berliner Universität der Künste, um dort gemeinsam mit dem Freund und Autor Jakob Nolte, den er der (auf Wikipedia hinterlegten) Legende nach bei der Schachweltmeisterschaft in Sofia kennengelernt hatte, szenisches Schreiben zu studieren. Gemeinsam veröffentlichte das Duo in den Folgejahren unter dem Namen NolteDecar Theaterstücke mit Titeln wie „Helmut Kohl läuft durch Bonn“ und „Der neue Himmel“, fünf an der Zahl. Dar­über hinaus schrieben beide auch solo, bei Decar entstanden auf diese Weise noch mal fünf weitere Stücke. Für manche davon erhielt er Preise, zum Beispiel 2014 den Kleist-Förderpreis für „Jenny Jannowitz“. Momentan allerdings habe er die Nase vom Theater voll, wie Decar zugibt.

Sein erster Roman ist bereits fertig und wurde vor Kurzem von einem großen Verlag gekauft. Bevor dieser erscheint, hat er allerdings einen Job mit für ihn traumhaften Arbeitsbedingungen angenommen. Das denkt er, wenn er sie mit jenen an den meisten Theatern vergleicht, wo omnipräsente Machtverhältnisse und verkrustete, umständliche Strukturen gute (Inszenierungs-)Ideen oft zerhacken und notdürftig wieder zusammensetzen, sodass am Ende für den Zuschauer nur leidlich spannende Kompromisse entstehen, wie er findet. Dieser Tage arbeitet Michel Decar als Hörspielregisseur im Auftrag des Deutschlandfunks.

Den Durchschnittsmenschen lieben

So sitzen wir nun in der Teeküche einer modern hergerichteten Etage des ehemaligen Gebäudes des Rundfunks im amerikanischen Sektor Berlins (kurz: Rias) und warten darauf, dass das Wasser kocht. Es ist ein dunkler Tag im Januar und bereits 17 Uhr – gleich beginnt für Decar der Arbeitstag. Von 18 bis 1 Uhr oder 2 Uhr nachts arbeitet er hier momentan mit einer Regieassistentin und einem Aufnahmeleiter in einem opulenten Tonstudio an einer Hörspielbearbeitung seines letzten Stücks: „Philipp Lahm“.

„Nein, ich hab gar keine besondere Beziehung zu Philipp Lahm“, sagt Decar und nippt an seinem Kräutertee. Auch habe er nicht im klassischen Sinne „redlich“ recherchiert, bevor er das Stück schrieb, das den Namen des Weltmeistermannschaftskapitäns und Triple-Gewinners aus München trägt. Der „reale“ Philipp Lahm würde ihn gar nicht so sehr interessieren, sondern eher, was er verkörpere. Fragt man Decar allerdings danach, wofür Philipp Lahm für ihn steht, ist ihm das Antworten merklich unangenehm. Er sei keiner, dem es so sehr gefällt, über vergangene Arbeit und sich selbst zu sprechen. Das ist sympathisch. Immerhin ist sein Stück „Philipp Lahm“ in seiner Stoßrichtung recht eindeutig: Es zeigt in einigen kurzen bis sehr kurzen Szenen die Banalität des Alltags eines durchschnittlichen Bewohners der Bundesrepublik Deutschland.

Natürlich ist der stets besonnene und bedachte Philipp Lahm genau das: ein Durchschnittsdeutscher, der durch viel Fleiß und Talent ein weltbekannter Fußballer wurde. Wenig überraschend hat dies aber in den Augen des Autors kaum etwas daran geändert, dass er, wenn der Ball nicht rollt und die Kameras aus sind, ein zum Gähnen durchschnittliches Leben führt: Er guckt „Tagesschau“, denkt über das Weltgeschehen nach, versucht die Dinge in Ordnung zu bringen, spielt Computerspiele, schneidet sich die Nägel und so weiter. Das einzige „Bemerkenswerte“ im Leben des Decar’schen Lahm sind die unzähligen Interviews, die den Fußballhelden immer wieder an verschiedenste Orte führen – allerdings bleiben auch diese Erfahrungen für den Protagonisten wie für den Leser austauschbar. Ein Theaterstück, in dem nichts passiert, also? Eines, das von der (un-)erträglichen Gleichförmigkeit menschlicher Existenz erzählt, das im Prinzip also auch Ihren, deinen oder meinen Namen tragen könnte? Wozu sollte man sich das ansehen (aktuell möglich in Marstall des Münchner Residenztheaters in einer Inszenierung von Robert Gerloff) oder anhören (wenn das Hörspiel pünktlich zur Fußball-EM im Sommer im Radio läuft)? Weil es witzig ist! Nicht im Sinne brachialer Schenkelklopfer, sondern im Sinne wohl dosierten, subtilen Witzes. Wie Michel Decar die Welt mit den Augen Philipp Lahms sieht, das hat sehr schöne augenzwinkernde und lakonische Momente. Das Stück „Philipp Lahm“ ruht, wie sein Protagonist, gewissermaßen in sich selbst.

Er sei keiner, dem es so sehr gefällt, über vergangene Arbeit und sich selbst zu sprechen

Beobachter einer Überflussgesellschaft

Eine seiner Qualitäten ist, dass es einen dazu verleitet, es nicht mehr so schwer zu nehmen, dass die eigene Existenz für sich genommen genauso so schrecklich unspannend ist wie die von Lahm. Darüber hinaus zeigt der hinter dem Text zum Vorschein kommende Autor sich als müder Beobachter einer Überflussgesellschaft, die aus Orientierungsverlust freizudrehen beginnt. Philipp Lahm lebt in Decars Text wie ein moderner Oblomow, der zu Hause puzzelt, während im Fernseher, im Netz und da draußen Wahn und Wahnsinn überhandnehmen.

„Philipp Lahm“ ist, ähnlich wie Decars andere Stücke, nicht im agitatorischen Sinne politisch, sondern stellt einen unschlüssigen Charakter in den Mittelpunkt, der mit seinem von Ambivalenz geprägten Blick auf die Welt recht zufrieden zu sein scheint. In diesem Sinne passt es natürlich ins Bild, wenn Decar zum Abschied sagt: „Ich hab, um ehrlich zu sein, den Großteil des Textes geschrieben, während ich im Bett lag.“ Wer allerdings aufgrund dieser Produktionsweise darauf schließt, der Autor selbst sei ebenfalls ein Oblomow’scher Charakter, der die Welt an sich vorüberziehen lässt, der könnte nicht falscher liegen. Wer mit 30 zehn Theaterstücke und einen Roman geschrieben hat, der kann so lethargisch nicht sein. Was ihn dazu antreibt, so viele Texte zu produzieren? Diese Antwort ist uns Decar heute schuldig geblieben, aber vielleicht brauchen wir sie auch nicht. Es reicht womöglich, wenn man sich die Frage stellt, was man für sich aus einem Stück herausziehen kann, das die Langeweile zelebriert.

Michel Decar ist derweil schon drüben im Studio, um in friemeliger Feinstarbeit die Aufnahmen für das „Philipp Lahm“-Hörspiel so hinzubiegen, dass sein Stück über einen müden Fußballstar am im Sommer angemessen phlegmatisch im Radio läuft, während die Nation ihre Sorgen im Ereifern über König Fußball ertränkt.