Das Leiden der anderen

Ach, diese Koksnasen! Benjamin von Stuckrad-Barres Autobiografie „Panikherz“ kannman sich in Oliver Reeses Uraufführung am Berliner Ensemble allzu leicht vom Leib halten

Von Barbara Behrendt

Wenige Tage zuvor war man im gleichen Theater dem kalten Drogenentzug einer jungen Schauspielerin inklusive Panik­attacken, Realitätsverlust und allerlei irren Mitpatienten ausgesetzt gewesen (Duncan Macmillan: „Menschen, Orte und Dinge“). Klare Präventionsbotschaft: Kinder, fangt bloß nicht an mit diesen Drogen!

Nun also das nächste Kapitel im toxischen Exzess: Oliver Reese, der Hausherr selbst, führt zum ersten Mal seit Amtsantritt Regie und hat Benjamin von Stuckrad-Barres dicken, autobiografischen Pop-Roman „Panikherz“ auf 40 Seiten eingedampft und uraufgeführt – weniger didaktisch, aber kaum bedrohlicher als die junge Regiekollegin auf der kleinen Bühne.

Stuckrad-Barre hat „Panikherz“ 18 Jahre nach seinem Pop-Literatur-Prototypen „Soloalbum“ geschrieben, nach vielen Jahren Medien-Glamour, Vollrausch und Essstörungen, die er nun erschreckend offen beschreibt. Es ist das Porträt eines viel zu früh viel zu erfolgreichen jungen Mannes, der panische Angst vor Alltagsroutinen hat, vor dem Dickwerden, vor dem Nicht-perfekt-Sein. Ein Narzisst, nicht gerade sympathisch, aber herzanrührend in seiner radikalen Ehrlichkeit.

„Panikherz“ ist außerdem ein Abgesang auf die ironiedurchtränkte, hypercoole Pop- und Medienkultur der 1990er und 2000er Jahre. Stuckrad-Barre war Gagschreiber bei Harald Schmidt, dem Fernsehkönig des Zynismus. In seiner Autobiografie steckt die Einsicht, dass die Pop-Generation mit dieser Haltung komplett gegen die Wand gefahren ist. Und dass es, wenn es hart auf hart kommt, eben doch, ganz ironiefrei, Retter wie den eigenen Bruder oder den guten Freund braucht. Das Buch steckt zudem voller kleiner Essays über Musikgeschichte und Begegnungen mit Bret Easton Ellis, Thomas Gottschalk, Elvis Costello.

Doch Reese lässt alles aus, was über die rein private Biografie hinausweist, also: alles, was den nicht drogenabhängigen Zuschauer zur Selbstdiagnose verleitete.

Die Bühne: eine nostalgische, schummrige Hotel-Lobby; wir sind im „Chateau Marmont“, wo Stuckrad-Barre sein Buch schreibt – mittlerweile clean von Kokain und Alkohol und einigermaßen von Bulimie genesen. Dort einquartiert hat ihn Udo Lindenberg. Denn auch das steckt in der Erzählung: eine Erlösergeschichte. Lindenberg ist der große Retter, die überhöhte Vaterfigur, die Stuckrad-Barre ungemein zärtlich beschreibt. Seine Songtexte und ihrer beider Freundschaft durchziehen sein Leben.

Geradezu zwingend, dass dann auch Lindenberg-Songs gespielt werden. Live-Musiker sitzen links und rechts der Bühne, die Schauspieler schmettern Udo-Hits – nichts, was umwirft, eher ein unterhaltsames Best-of.

Bettina Hoppe, Carina Zichner, Nico Holonics und Laurence Rupp spielen den Ich-Erzähler in unterschiedlichen Stadien: Zichner gibt den hyperaktiven Jugendlichen, der der Kleinstadthölle entfliehen will, die beiden Männer tauchen in den Karriererausch des Pop-Literaten und ins Drogenhoch ein, Hoppe übernimmt die Partien des Abstinenten, der melancholisch zurückschaut.

Übrig bleiben: viele Pointen, unzählige Geschichten über Koks-Highs, Brechattacken, Klinikaufenthalte. Der Abend bleibt buchstäblich auf den Drogen hängen; Reese lässt (nichts wäre erwartbarer) kiloweise weißes Pulver auf die Bühne schütten und die Schauspieler mit Verve den Exzess behaupten. Stuckrad-Barre – das ist hier die talentierte, durchgeknallte, egomane Koksnase, für die ihn das Showbiz immer schon gehalten hat. Und wir sind die Voyeure in einer leicht konsumierbaren Musical-Inszenierung. Schon schlimm, das mit den Drogen.