Vielfalt und Toleranz in Sarajevo: „Was, du fährst nach Bosnien?“

Es kommen wieder Freunde, Kollegen und Bekannte aus Deutschland nach Bosnien. Doch noch immer gibt es eine psychologische Schwelle zu überwinden.

Menschen in der Altstadt von Sarajevo

Buntes Treiben am Sebilj-Brunnen in der Altstadt von Sarajevo Foto: imago/Hoch Zwei Stock/Angerer

SARAJEVO taz | Wir sitzen mit den Freunden aus Bayern in der Kaffeebar Metropolis gegenüber dem neogotischen katholischen Dom von Sarajevo. Die Glocken läuten. Einige Nonnen vom nahegelegenen Kloster kommen aus der Kirche. Kinder spielen auf dem Platz direkt neben dem vor drei Jahren aufgestellten frei stehenden, für jeden zugänglichen Papstdenkmal. „Fällt euch da was auf“, frage ich. „Schaut genau hin.“ Langes Schweigen. Schließlich fällt Georg aus Traunstein doch etwas auf. „Ich sehe keine Graffiti.“

Ja, tatsächlich. Es steht ein drei Meter hohes Papstdenkmal in einer von 85 Prozent Muslimen bewohnten Stadt. „Niemand“, so sage ich, „ist in dieser Stadt auf die Idee gekommen, das Denkmal für den polnischen Papst zu verunstalten. Auch das jüdische Gemeindehaus, die Synagoge und das jüdische Museum sind nie angegriffen worden. Sarajevo ist wohl die einzige Stadt in Europa, wo keine Polizisten vor jüdischen Einrichtungen zu wachen brauchen.“

Die Reisenden sind überrascht. Es gibt ihn also doch noch, den Geist der Toleranz, den Geist des Zusammenlebens verschiedener Religionen und Nationen in dieser Stadt. Trotz des verheerenden Krieges, trotz der Belagerung der Stadt durch die „christlichen“ serbischen Truppen 1992 bis 1995.

Vielleicht hat sich das schon herumgesprochen. Es kommen wieder Freunde, Kollegen und Bekannte aus Deutschland nach Bosnien. Doch immer noch gibt es eine psychologische Schwelle zu überwinden. Als sie in ihrem Bekanntenkreis über ihr Reiseziel sprachen, hätten sie sich erklären müssen. „Was, du fährst nach Bosnien?“ Wie könne man nur in eine Land fahren, wo es während des Krieges vor 25 Jahren so viele Verbrechen gegeben hat. Und so viele Frauen vergewaltigt wurden. „Ist das nicht gefährlich?“

Wir schlendern von dem von den Österreichern nach 1878, nachdem die Habsburger Monarchie Bosnien vom Osmanischen Reich übernommen hatte, aufgebauten Viertel um den Dom in Richtung Altstadt. In den vierstöckigen Häusern gibt es neben Banken auch kleine Läden, wie die Bäckerei Kaiser, die an diese Zeit erinnern. Schon nach einigen Hundert Metern ist ein Streifen über die Straße gezogen. „Treffpunkt der Kulturen“ ist darauf zu lesen.

Die Altstadt von Sarajevo

Wir treten ein in die osmanisch-muslimisch geprägte Baščaršija. Kleine Lädchen, Cafes und Buregdžinicas, die bosnischen Schnellrestaurants, Kneipen mit Alkohol und ohne, reihen sich jetzt hier aneinander. In der Baščaršija im Tal der Miljacka wurde gearbeitet, oben, auf den Hängen der umgebenden Bergen, gewohnt.

Über eine Million Artilleriegranaten machten im letzten Krieg manche Stadtteile und auch die Baščaršija zur Trümmerlandschaft. Jetzt sind kaum mehr Spuren des Krieges zu sehen. Die Holzhäuser sind wieder aufgebaut, doch die Handwerker sind bis auf wenige verdrängt. Heute wird neben den respektablen Juwelieren in kleinen Lädchen auch viel Andenkenkitsch verkauft. Der soziale Wandel hatte allerdings schon vor dem Krieg eingesetzt.

Schon nach einigen Hundert Metern ist ein Streifen über die Straße gezogen. „Treffpunkt der Kulturen“ ist darauf zu lesen

Und wie durch ein Wunder haben gerade einige der wichtigsten Sehenswürdigkeiten den Krieg ohne große Beschädigung überstanden. Wir passieren die Husrev-Beg-Moschee im Zentrum, in deren Innenhof Gläubige verweilen und hier die Ruhe genießen. Wir werfen einen Blick auf die alte Synagoge, die jetzt als jüdisches Museum fungiert, und besuchen die Ausstellung dort. Zusammen mit der katholischen Kathedrale und der großen orthodoxen Kirche zeugen alle diese Bauten von einer langen Geschichte des Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen. In einem engen Umkreis sind neben den beiden wichtigsten christlichen Kirchen der Islam und das Judentum in den sakralen Bauten vergegenständlicht.

„Wie langweilig wäre es, in einer Stadt ohne Muezzins und Kirchenglocken zu leben“, sagt Amela, die sich zu uns gesellt hat. Die 55-jährige Kunsthistorikerin fühlt sich wohl in dieser Umgebung, die nach wie vor die bosnische Toleranz, das bosnische Zusammenleben symbolisiert. „Das hier ist mein Land, meine Heimat“, sagt sie ernst. Wir vermeiden es, über die seelischen Wunden zu sprechen, die der Krieg und die Verbrechen geschlagen haben. Sie will solche Gespräche nicht mit jedem und jederzeit führen.

Mehr als 20 Jahre nach dem Krieg

„Bosnien“, so sage ich den Freunden, „ist jetzt mehr als 20 Jahre nach dem Krieg zu einem der sichersten Plätze in Europa geworden. Hier gibt es keine Anschläge, in Sarajevo können Frauen nachts allein nach Hause gehen.“ Ich schweige. Das klingt, obwohl wahr, ein bisschen nach Tourismuswerbung. Dass es nach dem Krieg, in dem Zehntausende Bosniaken, also bosnische Muslime, nicht nur Kriegsopfer waren, sondern wie in Srebrenica regelrecht ermordet wurden, keine Racheakte gab, erwähne ich jetzt nicht. Man soll die Besucher nicht überfordern. Dann müsste man ausführlich über den bosnischen Islam sprechen, über die Haltung der bosnischen Muslime, Hass und Rachegefühle würden nur der eigenen Seele schaden. Das ist anders im östlichen radikalen Islam. Wie soll man das in dieser lauten Kneipe vermitteln?

In der Gasse drängen sich die Touristen aus aller Welt. „Wahrscheinlich hat das Land nach Island die höchsten touristischen Zuwachsraten in Europa“, sagt Amela und lädt uns in einem der kleinen Schnellrestaurants zum Essen ein. Gerade ist ein Tisch freigeworden. Wir bestellen Ćevapčići, die gewürzten Fleischröllchen, Spinat- und Kartoffelpita, dazu Trinkjoghurt und Salat.

Dann sehen wir Sulejman, wie er aufmerksam um sich blickend durch die Gassen schlendert. Der Professor ist Religionsphilosoph und auch sonst ein netter Mensch. Ihm geht der Touristenrummel schon zu weit. „Wenn ich morgens einen Kaffee trinken will, finde ich kaum mehr Platz“, grummelt er. Er ist es gewohnt, in der Baščaršija seinen stark gesüßten, dickflüssigen bosnischen Kaffee zu sich zu nehmen und den traditionellen, unumgänglichen morgendlichen Plausch mit Nachbarn und Freunden zu pflegen. „Aber das wird immer schwieriger. Es ist eine Schande, dass man jeden Tag um einen Stuhl kämpfen muss.“

Seit ein paar Jahren schon drängt sich von früh morgens bis spät abends eine unübersehbare Menge von Menschen aus aller Herren Länder in den schmalen Gassen. Es kommen ja nicht nur Gäste aus den Nachbarländern Serbien und Kroatien, sondern aus ganz Europa, aus Italien, Frankreich, jetzt auch aus Deutschland, Österreich und den nordischen Ländern. Dazu haben Türken das mehr als 400 Jahre zum Osmanischen Reich gehörende Reiseziel Bosnien und Herzegowina entdeckt.

Touristen aus Asien

„Und Türken kaufen bosnische Schnellrestaurants auf und bieten jetzt Döner an.“ Das sei so schrecklich wie McDonald’s mit Coca-Cola, moniert Sulejman. Seit Touristikagenturen in Südkorea, China und Japan die Stadt in ihre Programme aufgenommen haben, zögen schon früh morgens disziplinierte Asiaten von einer Sehenswürdigkeit zur anderen. „Die gehen aber nicht in die Cafés,“ freut sich der Professor.

„Guckt mal auf diese Szene“, sagt Amela. Mehrere mit ihrem schwarzen Umhang nach saudischer Art voll verschleierte Frauen schlendern hinter einem bärtigen Mann durch die Gassen. Sie passieren junge, laut lachende, in Jeans und T-Shirts steckende Mädchen. Sie treffen auf mittelalterliche Frauen aus Sarajevo, die, selbst westlich gekleidet, nachdenkliche Blicke auf die verschleierten Frauen werfen. „Es ist schrecklich, diese armen Frauen anzusehen, aber die sehen auch uns, werden konfrontiert mit uns normalen bosnischen muslimischen Frauen. Was werden sie darüber denken?“

Doch jetzt erscheint ein Wesen, das alle Blicke auf sich zieht. Eine junge, fein geschminkte Dame, angetan mit einem dunkelroten Hidschab, Jeans schauen unter der langen, bis zu den Knien reichenden beigen Tunika hervor. Die hochhackigen roten Schuhe runden wie die goldenen Armreife das Bild einer eleganten Erscheinung ab. Professor Sulejman freut sich: „Manche gläubige Frauen können sich sehen lassen“, schmunzelt er.

Arabische Geschäftsleute haben das grünbewaldete bosnische Gebirge entdeckt und investieren in riesige Touristenressorts. Südlich von Sarajevo auf einer Hochebene bei dem Dorf Dejčići entsteht eine Siedlung mit 890 Häusern, einem Einkaufszentrum, Moscheen, Kinos, einem künstlichen See. Umgeben von über 2.000 Meter hohen Bergen, von Quellen, Bächen und Flüssen, werden hier im Sommer Zehntausende Ferien machen können. Für Araber ein Paradies.

Nicht nur für sie. Die Herzegowina mit ihren schroffen Bergen, mit Mostar und der alten Brücke, dem Mittelmeerklima, dem Wein und den Südfrüchten, die fruchtbaren Gegenden Westbosniens, die historischen Städte wie Travnik und Jajce im Herzen Bosniens, die tiefen Schluchten der Drina und Tara, all dies sei eine Erkundung wert, sage ich den bayerischen Freunden. Morgen früh werden sie aufbrechen. Bis dahin gehen wir aber in die nahegelegene Barhana, wo es Bier, Wein und 30 Schnapssorten gibt, auf einen Abschiedstrunk.

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