Martin Reeh über die Mindestlöhne in Europa
: Das Unglück der anderen

Bei kaufkraftbereinigten 3,47 Euro liegt der Mindestlohn in Mazedonien, bei 3,15 Euro in Serbien und bei 2,06 Euro in Albanien. Diese Zahlen spielen kaum eine Rolle, wenn es um die EU-Beitrittsverhandlungen für den Westbalkan geht, auch beim Treffen von Kanzlerin Merkel mit Serbiens Präsident Vučić am Dienstag nicht. Die Wucht des Lohnungleichgewichts zwischen dem armen Westbalkan und dem reichen Westeuropa wird sich erst dann auswirken, wenn die Staaten bis 2025 der EU beitreten sollten, wie es ihnen von Brüssel in Aussicht gestellt wurde.

Ändert sich bis dahin nichts an den niedrigen Löhnen, dürfte eine Auswanderungswelle folgen, wie sie jetzt schon Rumänien und Bulgarien erleben. Vor allem Jüngere kehren ihren Ländern den Rücken, Arme ebenso wie viele qualifizierte Fachkräfte.

Union und SPD haben nun mit einer vagen Formulierung in ihrem Koali­tions­vertrag Vorschläge eines Rahmens für europäische Mindestlohnregelungen vereinbart. Ein solcher Mindestlohn könnte die Auswanderung abmindern, weil so die regionale Kaufkraft gestärkt und mittelbar auch die Löhne für besser Qualifizierte nach oben getrieben werden.

Doch ob verbindliche Lohnuntergrenzen wirklich kommen werden? In der EU stehen sich zwei Philosophien gegenüber: Die dominierende setzt darauf, dass Unternehmen von mobilen Arbeitskräften profitieren – und mobil sind sie vor allem dann, wenn durch Niedriglöhne ein Anreiz zur Abwanderung besteht. Die andere, sozialdemokratische Sicht besteht im Ausgleich regionaler Ungleichgewichte.

Aber weil Deutschland vom Unglück der anderen profitiert, war selbst der SPD eine gemeinsame Lohnfindung bisher nicht allzu wichtig. Auch dafür gibt es im Koalitionsvertrag eine blumige Formulierung: „Europa muss ein Kontinent der Chancen sein. Wir wollen, dass junge Menschen gute Jobs finden, sich frei und mobil in Europa bewegen können.“ Vom Balkan als „Region der Chancen“ ist dort aus guten Gründen nicht die Rede.

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