Kaputte Väter und neue Verwandte

Ist Verwandschaft immer biologisch? In der Buchpremiere zu „Blutsbande“ dachte Christina von Braun zukunftsgewandter

Von Annika Glunz

Was assoziieren wir mit dem Begriff „Verwandtschaft“? Vielleicht mag der ein oder die andere spontan an Seelenverwandtschaft denken, an Freundschaften, Patchwork-Familien oder auch an In-vitro-Fertilisation. Vielen wird jedoch primär die biologische, die Blutsverwandtschaft in den Sinn kommen. Letztere Auffassung von „Verwandtschaft“ jedoch besitzt keinesfalls jene Selbstverständlichkeit, mit der sie über die Jahrhunderte hinweg in westlich geprägten Kulturkreisen belegt wurde – so wird Verwandtschaft weltweit beispielsweise auch über gemeinsame Nahrungsaufnahme oder die Bewirtschaftung desselben Landes definiert.

Christina von Braun, Kulturwissenschaftlerin, Autorin und Filmemacherin, hat sich für ihr aktuelles Buch „Blutsbande“ auf historische, ethnologische und anthropologische Spurensuche begeben. Über die Erkenntnisse, zu denen sie auf diesem Wege gelangte, diskutierte sie im Rahmen des „Literatur: BERLIN“-Festivals mit Moderatorin und „Philosophie Magazin“-Chefredakteurin Svenja Flaßpöhler.

Zu Beginn des Gesprächs verdeutlichte von Braun zunächst, auf welchen Vorstellungen die Idee der Blutsverwandtschaft beruht: „Ausgelöst durch die Diaspora definierte das rabbinische Judentum Verwandtschaft leiblich. Während die Thora für das geistige Vaterland stand, galt der mütterliche Körper als portatives Mutterland.“ Das Christentum, das sich immer parallel und gleichzeitig in Abgrenzung zum Judentum entwickelt habe, verfolgte hingegen eine strikte Patrilinearität, aus der auch das Königtum hervorgegangen sei.

Einen zentralen Grund für die Unabdingbarkeit der Aufrechterhaltung des Konzepts der Blutsverwandtschaft sah von Braun in einer ganz einfachen Tatsache: „In Zeiten, wo Unsicherheit über Vaterschaft herrschte, diente dieses Konzept der Aufrechterhaltung einer sozialen Realität.“ Ebendiese Unsicherheit habe auch zu einer symbolischen Überbewertung der Vaterschaft geführt.

In der Folge jedoch führten historische Entwicklungen zu einer Aushöhlung dieses Konzeptes. Mit Aufkommen des Kapitalismus löste sich zunächst das Vermögen vom Grundbesitz, später habe die fortlaufende Liberalisierung der Marktwirtschaft auch zur Öffnung unserer Konzepte von Liebe, Beziehung und Familie beigetragen und zu „fluiden Identitäten“ geführt: Patchwork-Familien, Samenspenden, Leihmutterschaften. Außerdem wurde Vaterschaft nachweisbar: „Durch die so entstandene Körperlichkeit erfuhr die Vaterschaft eine symbolische Abwertung“, konstatierte von Braun. Was zum einen als „Zeitalter der kaputten Väter“ galt, sei gleichzeitig der Punkt gewesen, an dem sich neue Möglichkeiten auch sozialer Verwandtschaften eröffnet hätten.

Beim Thema „fluide Identitäten“ eröffnete Moderatorin Flaßpöhler die Diskussion: In klarer Abgrenzung zur zunehmenden ideologischen Instrumentalisierung des Begriffs der „biologischen Verwandtschaft“ durch rechte Bewegungen fragte sie, ob das Konzept der Leiblichkeit nicht dem Kapitalismus entgegenstehen sollte – schließlich seien fluide Identitäten doch unmittelbar aus marktwirtschaftlichen Entwicklungen hervorgegangen. Von Braun stimmte dem Einwand grundsätzlich zu, wandte den Blick jedoch eher nach vorn: „Es gibt neurobiologische Forschungen, die beweisen, dass soziale Funktionen in der Lage sind, biologische Prozesse zu verändern. Das heißt also, dass auch soziale Väter zu biologischen Vätern werden können. Ich sehe im Konzept des Vertrauens in- und der Verantwortung füreinander eine der möglichen Grundlagen einer neuen Gesellschaft“.

Ganz in diesem Sinne formulierte von Braun auch das Schlusswort ihres Buches: „Die Moderne wird auf sozialen Verwandtschaftsverhältnissen beruhen oder sie wird nicht sein.“