Staatschef im Begleittross

Beim Kandidatenturnier in Berlin soll der Herausforderer von Schachweltmeister Magnus Carlsen ermittelt werden. Viele Experten setzen auf den stabiler gewordenen Armenier Lewon Aronjan

Armeniens Staatspräsident Sersch Sargsjan flog extra zum Kandidatenturnier nach Berlin ein

Von Hartmut Metz

Berlin ist in den nächsten Wochen der Nabel der Schachwelt – und geht es nach Experten und Fans, wird auch ein langjähriger Berliner der nächste WM-Herausforderer: Lewon Aronjan. Dem in letzter Zeit so erfolgreichen Armenier, der 2017 mehrfach Weltmeister Magnus Carlsen düpierte, trauen fast alle den Sieg bei dem mit 420.000 Euro dotierten Kandidatenturnier im „Kühlhaus“ zu.

Den Glauben an Aronjans Durchbruch eint Armenien: Der frisch gewählte Staatspräsident Sersch Sargsjan flog extra zum ersten WM-Kandidatenturnier in Berlin ein, um bei der Auftaktpressekonferenz des Nationalhelden der Kaukasusrepublik mit von der Partie zu sein. Den Stellenwert des Denksports in Eriwan zeigt der neue 2.000-Dram-Geldschein: Er zeigt den bisher einzigen armenischen Weltmeister, Tigran Petrosjan, der von 1963 bis 1969 unter sowjetischer Flagge antrat.

In einer Umfrage der Zeitschrift Schach sahen 38 von 64 Experten Aronjan nach 14 Runden vorne, obwohl dem Weltcup-Sieger in entscheidenden Momenten auf dem Weg zur WM stets die Nerven einen Streich spielten. Doch nachdem der 35-Jährige die australische Schachnationalspielerin Arianne Caoili geheiratet hatte, wurde der Weltranglistenfünfte stabiler. Ähnlich ist es bei Schachrijar Mamedjarow: „Seit ich verheiratet bin, ziehe ich nicht mehr jeden Tag um die Häuser“, begründete der neue Weltranglistenzweite aus Aserbaidschan seinen steilen Aufstieg. Triumphiert er, wäre das für die Armenier der Super-GAU, sind sie doch mit den Nachbarn aus Aserbaidschan tief verfeindet.

„Ich tippe auf Wladimir Kramnik oder Mamedjarow“: Otto Borik vom Schach-Magazin 64 hat ebenfalls den Ex-Weltmeister aus Russland auf der Rechnung. Und auch Zeit-Schachkolumnist Helmut Pfleger tippt auf den erfahrensten Spieler im Feld: „Alle anderen machen Züge, doch Kramnik spielt Schach“, bewundert der Münchner Großmeister den 42-jährigen Weltranglistendritten. Bei einem WM-Kampf gegen Carlsen räumen Pfleger wie Borik aber keinem allzu gute Aussichten ein – letztlich sei der Norweger aktuell kaum im Zweikampf zu schlagen. Der Titelverteidiger erwartet im Übrigen Fabiano Caruana vorne. Der furchtlose Amerikaner mit italienischen Wurzeln hätte ihn fast an der Spitze der Weltrangliste abgelöst, überzeugte zuletzt aber wenig.

In dem heute beginnenden Wettbewerb ist Din Liren, der erste Chinese in einem Kandidatenturnier, absoluter Außenseiter. Die Russen Alexander Grischuk und Vizeweltmeister Sergei Karjakin werden ebenso kaum vorne erwartet – obwohl der 28-Jährige im letzten WM-Match Carlsen an den Rande einer Niederlage brachte. Achter Qualifikant des Wettbewerbs vom 10. bis 27. März (jeweils ab 15 Uhr) ist Wesley So. Der einstige Filipino unter US-Flagge steht auf Platz vier der Weltrangliste. Der Sieger des Kandidatenturniers erhält mit 95.000 Euro nur 7.000 Euro mehr als der Zweite – kann aber noch einen Millionenbetrag fürs WM-Finale ­kassieren.

Turniervermarkter Agon glaubt an einen besonderen Erfolg in Deutschland – schließlich spielten 27 Prozent im Land der Dichter und Denker regelmäßig Schach. Wie YouGov auf dieses Umfrageergebnis kommt, würde der Deutsche Schachbund (DSB) mit seinen nur rund 90.000 aktiven Mitgliedern gerne wissen … Trotzdem hofft DSB-Präsident Ullrich Krause nicht nur auf einen Berlin-, sondern auch einen Berlinchen-Effekt. Denn in dem Ort in Westpommern wurde Emanuel Lasker vor 150 Jahren geboren. Zusammen mit der Lasker-Gesellschaft würdigt der Verband heuer den Mathematiker und Philosophen, der am längsten auf dem Thron saß, mit zahlreichen Aktionen: Von 1894 bis 1921 dominierte er die Schachszene 27 Jahre lang. So alt ist Carlsen heute erst.