Werdebesondersundschreibeeinzigartig

Literaturinstitute und Schreibschulen sind in der Mitte des Literaturbetriebs angekommen. Dennoch werden sie weiterhin stark kritisiert – wenn auch aus vollkommen falschen Gründen

Alltag im Literaturinstitut in Leipzig, 2003. Im Fenster eine prominente Absolventin: Juli Zeh Foto: Jörg Gläscher/laif

VonKevin Kempke
und Lena Vöcklinghaus

Wenn am kommenden Donnerstag der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen wird, stehen die Chancen bei 40 Prozent, dass nach Saša Stanišić zum zweiten Mal jemand den Preis erhält, der das Schreiben an einem Literaturinstitut studiert hat. Denn mit Anja Kampmann und Matthias Senkel sind zwei der fünf nominierten Romane von ehemaligen Studierenden des Literaturinstituts in Leipzig verfasst worden – die „Institutsprosa“ und ihre Urheber und Urheberinnen sind in der Mitte des Literaturbetriebs angekommen.

Und dennoch existieren weiterhin die üblichen Vorurteile: Es fehle der Institutsprosa an Welthaltigkeit und Erfahrungsreichtum, an Genie und Esprit, sie lasse die altehrwürdige Literatur zur öden Bauchnabelschau verkommen und überhaupt sei Schreiben an einer Universität gar nicht lehrbar. Das alles aus der relativen Neuheit der Schreibschulen abzuleiten, wäre zu kurz gedacht. Schon die Öffentlichkeit in der DDR schimpfte über das 1955 gegründete Literaturinstitut Johannes R. Becher, es würde Literatur „aus der Retorte“ hervorbringen, und der amerikanische Literaturwissenschaftler Mark McGurl zeichnet in seiner mittlerweile kanonischen Studie „The Program Era“ nach, wie die flächendeckende Verbreitung der Schreibstudiengänge in den USA von erheblichen Vorbehalten begleitet war.

Was ist eigentlich der Motor hinter den Abwertungen? Der immer wieder zu hörende Vorwurf der Handwerklichkeit der Schreibschultexte ist hier noch die langweiligste Fährte: Die Gegenüberstellung von Inspiration und Handwerk ist als Überbleibsel der langsam, aber sicher erodierenden Genieästhetik ein alter Hut.

Interessanter wird es, wenn man sich die weniger offensichtlichen Gründe ansieht. Denn dann wird klar, dass ein Großteil der Vorbehalte mit der Geschlossenheit des Literaturbetriebs zusammenhängt. Schließlich wird an Schreibschulen unter institutioneller Aufsicht der literarische Ernstfall geprobt – und dabei entstehen nicht nur professionell gearbeitete literarische Werke, sondern auch solide informelle Netzwerke und nicht zuletzt immer professionellere Inszenierungs- und Vermarktungsstrategien. Am wichtigsten aber: Literaturinstitute bedingen die Selbstreflexion aller Beteiligten. Denn die Frage, wie jungen Schreibenden bei ihrer Professionalisierung geholfen werden kann, kann nicht beantwortet werden, ohne offenzulegen, wie die ökonomischen und symbolischen Ordnungen des Marktes gestaltet sind. In einem so informell funktionierenden Gewerbe wie dem der Literatur stellen die Institute deshalb eine Provokation dar.

So lässt sich an Literaturinstituten beobachten, was in der Soziologie als Matthäus-Effekt bekannt ist: Wer sich in Projekten wie Erstsemester-Anthologien, Lesereihen, Radioprojekten oder Literaturzeitschriften engagiert, lernt das Herausgeben mit all seinen Facetten, vom Umgang mit Fördergeldern über das Marketing bis hin zum Lektorat und Korrektorat der Texte. Die begehrten Posten in Studiengangsprojekten oder in der Lehre werden jedoch oft nicht offiziell ausgeschrieben. Die Tendenz, dass Studierende, die bei Studienbeginn schon viel über die Literatur und die sie umgebenden Produktionsbedingungen wissen, sich schneller hervortun und immer bessere Jobs an Land ziehen können, ist so natürlich größer. Und wer einmal in der Maschinerie drin ist, kann mit immer weiteren Engagements rechnen.

Dieses Prinzip greift aber auch beim Schreiben selbst: Wer früh einen Preis ergattert, der wird auch später leichter weitere Stipendien und Preisgelder einsacken können. Als Künstlertochter oder als Arztsohn schreibt und studiert es sich also leichter.

Das betonen auch die Ehemaligen der Schreibschulen gerne und oft: Nachdem Florian Kessler auf Zeit Online vor drei Jahren das oberflächliche Diskursbingo der Akademikerkinder verurteilte, kritisierten 2017 rund dreißig ehemalige Schreibschulstudierende im Blog der Zeitschrift Merkur, dass nicht nur die sozioökonomische Herkunft, sondern auch das Geschlecht ein gewichtiger Erfolgsfaktor an Schreibschulen ist. Denn an den meisten Literaturinstituten halte die Lehre mehr Identifikationsangebote, Motivationen und Offerten für männliche, weiße und heterosexuelle Studierende bereit. Der Matthäus-Effekt entfaltet sich also an verschiedenen Grenzen sozialer Ungleichheit. Und die Schreibschule hält ihren Kopf hin, um sich für Undurchlässigkeiten kritisieren zu lassen, die im gesamten Literaturbetrieb zu finden, dort aber schwieriger zu beobachten sind.

Und doch sind Schreibschulen auch eine Art Vorraum des Betriebs, der zumindest teilweise geschützt ist. Ein solcher Schutzraum ermöglicht es seinen Mitgliedern auch, erst mal zu üben. ­Literaturinstitute geben Talenten, die qua Herkunft weniger gut wissen, wie sie sich im Literaturbetrieb verkaufen, die Möglichkeit, die Spielregeln zu lernen. Die Schreibschule ist also ein Ort, an dem nicht nur Schreibverfahren erprobt werden können, sondern auch die sozialen Umgangsformen, die Teil des Berufsbilds „Autor“ sind – find your voice and find your pose. Die Arbeit in der Schreibschule ist für die Autoren und Autorinnen damit auch Arbeit an der Entwicklung eines unique selling point der eigenen Autorschaft und seiner Verkörperung nach außen.

Dass Autorinnenschaft darin besteht, das eigene Scheiben und die Darstellung der eigenen Person auf ein bestimmtes Zielpublikum auszurichten, ist im öffentlichen Sprechen über Literatur immer noch ein heikles Thema. Autoren und Autorinnen mit ernsthaften Ambitionen lernen schnell, dass es zum guten Ton gehört, zu behaupten, man inszeniere sich doch gar nicht – eine Haltung, die sich, allen Erosionen des Geniekults zum Trotz, immer noch ziemlich gut verkaufen lässt. Dem Begriff „Inszenierungsstrategie“ haftet schließlich stets der Verdacht der Täuschung an. Und vielleicht schwingt hier auch die Angst mit, dass herauskommt, dass sich seit jeher ziemlich viele SchriftstellerInnen Gedanken über die Wahl ihrer Brille gemacht haben – zusätzlich zu den Gedanken über ihren Roman.

Hier setzt auch der zweite große Vorwurf an: Die Literatur der Schreibschülerinnen sei deshalb defizitär, weil sie zu wenig erlebt hätten. Erfolgreiche Autorschaft habe ein erfahrungsreiches Leben zur Voraussetzung. Angehende Autoren und Autorinnen, die sich lieber in den Schoß des Seminarraums zurückzögen, statt der großen weiten Welt Texte abzukämpfen, sind daher verdächtig. Erst Leben, dann Literatur, so die gängige Formel.

Als Arztsohn oder Künstlertochter schreibt es sich eben leichter

Der Vorwurf an die Autoren, nichts Aufschreibenswertes erlebt zu haben, ist daher auch als Variante einer zuletzt häufig zu hörenden Krisendiagnose zu verstehen: Die Literatur werde durch den Literaturbetrieb verdorben, weil dieser die Autoren daran hindere, dem eigentlichen Leben nachzugehen. Wer ganz jung in den Betrieb einsteigt, hat es umso schwerer, diesen Vorwurf wieder abzuschütteln – womit dieser auch als eine Art Strafe für den Matthäus-Effekt gelesen werden kann. Der Welpenschutz greift bei Debütantinnen jedenfalls erst, wenn verbürgt ist, dass sie vor ihrem Roman mit mehr zu kämpfen hatten als mit Praktikumsberichten und ECTS-Punkten.

Die Institute reagieren darauf, indem sie das Erfahrungsmanagement zum Teil ihrer Ausbildung machen. Dazu gehört zum einen, das Institut als einen Ort zu verstehen, an dem die Studierenden ihre gelebte Erfahrung in aller Ruhe in Literatur überführen können. Um mit McGurl und der Geschichte der amerikanischen Institute zu sprechen: Die experience wird durch die craft der Institute geschliffen.

Zum anderen soll aber auch das Studium selbst intensive Erfahrungen ermöglichen. Bei der konzentrierten und persönlichen Zusammenarbeit in kleinen Gruppen, wie sie in den Instituten geschieht, ist der Übergang von kreativen Grenzgängen hin zu existenziellen Selbsterfahrungen fließend. In einer Selbstbeschreibung des Hildesheimer Instituts etwa ist von „drei Jahren produktionsästhetischer Intensivsterfahrung“ die Rede. Auch hier greift also das Erfahrungsparadigma: Erfahrung wird am Literaturinstitut gleichzeitig hergestellt und verarbeitet.

Die Verurteilung der Idee, Leben und Kunst auf diese Weise zusammenzudenken, mag eine weitere Triebfeder der Schreibschul-Ressentiments sein. Eine, die verkennt, dass die Schreibschule nur auf der Höhe der Zeit ist: Sie folgt einem Trend, nämlich dem der umfassenden Kulturalisierung, wie sie der Soziologe Andreas Reckwitz in seiner Studie „Die Gesellschaft der Singularitäten“ (in der Kategorie Sachbuch auch ein Kandidat für den Leipziger Buchpreis) beschreibt: Der individuelle Lebenslauf wird mit Einzigartigkeit und Besonderheit aufgeladen, wo es nur irgend geht, um in den wachsenden creative industries Bestand zu haben. Dieses letzte Ressentiment gegen die Schreibschulen wäre also eigentlich ein Ressentiment gegen die Entwicklung der Gesellschaft hin zur Kulturalisierung des Individuellen.

Was diese Entwicklung mit dem Literaturbetrieb in Zukunft machen wird, ist eine wichtige Frage. Vielleicht lässt sich das öffentliche Gespräch in der nächsten Welle der Schreibschulkritik ja eine Schraube weiter drehen. Wenn alle Beteiligten verstanden haben, dass es nicht mehr darum geht, ob Literaturinstitute relevante Gegenwartsliteratur hervorbringen. Sondern darum, wie sie es tun.