Drehen an der Job-Schraube

Dem Siemens-Konzern geht es gut. Aber vielleicht noch nicht gut genug? Fakt ist: Auch am Traditionsstandort Berlin sollen fast tausend Jobs wegfallen – anderswo lassen sich Dynamos und Turbinen eben günstiger herstellen. Gewerkschaft und Senat wollen um die Arbeitsplätze kämpfen

Hier wurde nicht gedreht, sondern gestanzt: Arbeiter im Werk der Siemens & Halske AG in einer Radierung von Franz Graf aus dem Jahr 1924 Foto: AKG

Von Tarik Ahmia

Das Siemens der Zukunft geht so: „Ökonomie + Ökologie + Soziales“ ergibt „Siemens One“. So beschreibt Europas größter Industriekonzern sein Management-Mantra im Strategiepapier „Vision 2020“. Da will es nicht recht ins Bild passen, dass der Technologieriese, der 2017 einen Gewinn von 6,2 Milliarden Euro machte, daran arbeitet, 6.900 Jobs in den Sparten Kraftwerke und Antriebe abzubauen – 3.400 davon in Deutschland.

Über 900 Arbeitsplätze sollen im sächsischen Görlitz und in Leipzig entfallen, weil Siemens dort Turbinenwerke ­dichtmacht. Und auch in Berlin, seinem weltweit größten Standort mit rund 11.600 Beschäftigten, will der Konzern knapp 900 Stellen streichen: 570 davon durch Schließung der Produktion im Spandauer Dynamowerk, wo seit 112 Jahren riesige E-Motoren für Bagger, Bergbau-Förderanlagen, Walzwerke und Schiffe gebaut werden. Siemens beklagt hier Überkapazitäten, weil Aufträge fehlten. Ähnlich sieht es im Moabiter Gasturbinen-Werk aus: Dort will der Konzern weitere 300 Stellen streichen.

Klaus Abel, Erster Bevollmächtigter der IG Metall in Berlin, spricht von einem „Kahlschlag“. Für Siemens-Chef Joe Kaeser hat der radikale Einschnitt eine klare Ursache: die Energiewende. Die Branche stehe vor einem „grundlegenden Strukturwandel“.

Seit bald 50 Jahren baut Siemens an der Moabiter Huttenstraße riesige Gasturbinen für die Stromerzeugung. Die Kolosse liefern bis zu 400 Megawatt, ihre Konstruktion ähnelt der von Strahltriebwerken, die Düsenjets antreiben. Energiekon­zerne nutzen Gasturbinen vor allem für Reserve-Kraftwerke, die sich bei hoher Stromnachfrage schnell zuschalten lassen.

Steil nach unten

Tatsächlich geht es im globalen Geschäft mit Gasturbinen seit Jahren steil nach unten. Im Jahr 2011 wurden von global agierenden Ausrüstern wie Siemens, General Electric und Mitsubishi Hitachi Power Systems weltweit noch 249 große Gasturbinen verkauft, letztes Jahr waren es 112. In diesem Jahr dürfte die Branche weltweit kaum mehr als 100 solcher Turbinen absetzen, die Kapazitäten der Hersteller wären damit bloß zu einem Viertel ausgelastet.

Aus Deutschland bekam Siemens in den letzten drei Jahren Aufträge für gerade einmal zwei Gasturbinen. Lisa Davis, die bei Siemens die Energiesparte leitet, sieht den Stromsektor „vor einem disruptiven Wandel, der sich in einer beispiellosen Geschwindigkeit vollzieht“. Die Branche leidet unter Überkapazitäten in der Produktion, hartem Wettbewerb und massivem Preisdruck. Das verhagelt die Bilanzen: Die Einnahmen von Siemens’ Kraftwerkssparte „Power & Gas“, einst wichtigster Umsatzbringer, brachen zwischen 2016 und 2017 um 30 Prozent ein – von 19,4 Milliarden auf 13,4 Milliarden Euro.

Mitverantwortlich dafür: der Boom der Erneuerbaren. Ökostrom lässt sich heute vielerorts billiger herstellen als Strom aus fossilen Brennstoffen. Die stetig sinkenden Produktionskosten prägen die Investitionsentscheidungen: Weltweit fließt nahezu dreimal so viel Geld in den Ausbau der erneuerbaren Energien wie in vergleichbare Investitionen in fossile Energieträger. Bis 2040 werde sich dieses Verhältnis in Richtung 4:1 ausweiten, prognostizieren Analysten von Bloomberg New Energy Finance: 6,3 Billionen Euro sollen in den nächsten gut 20 Jahren weltweit in den Ausbau erneuerbarer Energien fließen, nur 1,8 Billionen in fossile Energien.

Ein neu gebautes Kraftwerk ist 40 bis 50 Jahre in Betrieb. Welcher Investor will angesichts des Siegeszugs der Erneuerbaren und einer zunehmend dezentralisierten Energieversorgung noch viel Geld in große fossile Kraftwerke stecken und hoffen, dass sich diese Investitionen auch noch 2060 gewinnbringend betreiben lassen?

Klaus Abel von der IG Metall findet die monokausale Krisen-Analyse des Siemens-Chefs „nicht nachvollziehbar“. Die Ursachen für den schleppenden Absatz seien vielfältiger und komplizierter, nicht alles lasse sich dem Strukturwandel anlas-

Was die Wände erzählen würden, wenn sie könnten, will sie gar nicht wissen: „Stammhaus“-Betreiberin Jasmin Röschel (links)

ten. Geopolitische Krisen wie im Nahen Osten hätten Projekte verzögert und Unsicherheit zu Lasten von Investitionen in Gaskraftwerke verursacht.

Tatsächlich gibt es weitere Motive für Joe Kaeser, den Stellenabbau in Deutschland voranzutreiben. Mit seiner auf „Strukturwandel“ beschränkten Erzählung betreibt er beim Job-Poker eine doppelte Strategie, indem er die Arbeitnehmer der verschiedenen Produktionsstandorte gegeneinander ausspielt.

Das lässt sich etwa an den Turbinenwerken in Berlin und Görlitz erkennen. Beide Standorte arbeiten seit Jahren profitabel. Das Berliner Gasturbinenwerk bekam 2015 den Zuschlag für den größten Einzelauftrag der gesamten Siemens-Geschichte: 24 Großturbinen für Ägypten. Auch das Werk Görlitz ist zu gut 90 Prozent ausgelastet und wirft 10,1 Prozent Rendite ab.

Mit 11.600 Mitarbeitern ist Berlin größter Produktionsstandort von Siemens. Hauptsitz des 1847 in Berlin gegründeten Konzerns ist heute München.

Das Gasturbinenwerk in Moabit beschäftigt etwa 3.700 Mitarbeiter. Hier werden Großturbinen entwickelt und gebaut sowie Service und Vertrieb organisiert. 300 Stellen sollen abgebaut werden.

Im Spandauer Dynamowerk stellen 870 Mitarbeiter industrielle Elektromotoren her. Die Konzernführung will die Fertigung in der ältesten Produktionsstätte von Siemensstadt schließen. 200 Entwickler sollen bleiben.

3.250 Mitarbeiter bauen im Schaltwerk Schalttechnik für Stromnetze. Aktuell sind hier wohl keine Jobs gefährdet.

Im Messgerätewerk produzieren rund 1.000 Menschen den größten Teil der für Stromverteilung benötigten Siemens-Technik. Das Werk gehört zu den führenden Anbietern von digitaler Schutztechnik für Energieversorger.

Mobility and Logistics: Rund 830 Mitarbeiter in Berlin sind mit der Planung und Verwirklichung von Eisenbahnprojekten wie Signaltechnik, Weichenstellsystemen, Zugsicherung und Bahnübergängen beschäftigt.

Ein Drittel billiger

Allein, im weltweiten Vergleich versprechen andere Standorte noch mehr Gewinn auf das eingesetzte Kapital. „Wettbewerber aus China oder Tschechien liegen um rund ein Drittel unter unseren Preisen, teilweise noch mehr“, so eine Siemens-Sprecherin gegenüber dem MDR. Siemens hat daher in China, Indien und Saudi-Arabien neue Werke gegründet und ist bestrebt, die Gasturbinenproduktion an diese profitträchtigeren Standorte zu verlagern. Allein in China beschäftigt Siemens 32.000 Menschen. Von der taz dazu befragt, reagiert das Unternehmen schmallippig: „Wir möchten uns an Spekulationen über Verlagerungen nicht beteiligen“, sagt ein Sprecher.

„Wir verhandeln mit dem Ziel, alle Arbeitsplätze zu erhalten“

Klaus Abel, Erster Bevollmächtigter der IG Metall in Berlin

„Es wird auch in Zukunft weltweit einen verlässlichen Bedarf für Gas-Energieerzeugung und Antriebe geben“, ist sich Klaus Abel sicher. Gasturbinen-Kraftwerke würden die erneuerbaren Energien sehr gut ergänzen: „Kein Wind- oder Solarkraftwerk lässt sich so schnell hochfahren wie eine Gasturbine.“

Vor allem die aufstrebenden Volkswirtschaften in Südostasien, die schmutzige Kohlekraftwerke durch sauberere Gaskraftwerke ersetzen, werden als Abnehmer immer wichtiger. Die Frage ist, wer diese Turbinen bauen darf. Grundsätzlich stehen die Chancen für das Moabiter Werk gar nicht schlecht: Siemens hat bereits zugesagt, sein Kompetenzzentrum für große Gasturbinen in Berlin zu belassen. Damit würde in der Huttenstraße auch künftig jede dritte Großturbine hergestellt, die Siemens weltweit verkauft. Die angekündigte Streichung von 300 Jobs zielt auch nicht ins Herz der Turbinenproduktion, sondern betrifft „nur“ die Anfertigung der Gehäuse. Die wolle Siemens dann bei Fremdfirmen einkaufen, erklärt Personaldirektorin Janina Kugel.

IG-Metaller Klaus Abel gibt sich dennoch kämpferisch: „Wir verhandeln mit dem Ziel, alle Arbeitsplätze zu erhalten“, sagt er der taz. Die Gewerkschaft habe ein Konzept vorgelegt, das darauf abzielt, die Produktion der Gasturbinen zu optimieren. Zudem biete Berlin mit seinen Universitäten und Forschungseinrichtungen ein ideales Umfeld.

Macht das industrielle Erbe für alle sichtbar: Wandgestaltung im 1980 eröffneten Bahnhof Rohrdamm auf der Linie U7 Fotos: Stefanie Loos

Das Outsourcing einzelner Abteilungen macht für Abel auch betriebswirtschaftlich keinen Sinn: „Die Gehäusefertigung produziert sehr spezialisierte Teile. Sie im Haus zu haben, verschafft uns die erforderliche Flexibilität.“ Die Stellenstreichungen seien auch nach wie vor nicht beschlossen, die „ergebnisoffenen Sondierungen“ liefen noch bis in den April. „Zu Zwischenständen wollen wir uns nicht äußern“, erklärt ein Siemens-Sprecher auf taz-Nachfrage. „Auch können wir dem Ausgang der Gespräche natürlich nicht vorgreifen.“

Kennt den Kiez besser als viele der heutigen Siemens- Mitarbeiter: Olaf Löschke (rechts) vom Stadtteilbüro Siemensstadt Fotos: Stefanie Loos

Wirtschaftssenatorin Ramona Pop beobachtet die Entwicklung mit Argusaugen. „Es bleibt die Erwartung an Siemens, seiner Verantwortung gerecht zu werden und zukunftsfeste Lösungen für die MitarbeiterInnen zu finden“, sagt sie der taz. Das Land wolle den Erhalt guter Arbeitsplätze unterstützen, auch der Bundeswirtschaftsminister sei in den Dialog eingebunden. Siemens dürfe auf strukturbedingte Absatzprobleme nicht mit Standortschließungen antworten, sondern müsse eine Produkt- und Innovationsoffensive starten. „Wir erwarten von Siemens durch verstärkte Investitionen in Digitalisierung und Zukunftstechnologien, neue Arbeitsplätze zu entwickeln“, so Pop.

An einem Eklat bei den Verhandlungen ist der Konzernführung offensichtlich auch nicht gelegen. Der Stellenabbau solle „sozialverträglich“ erfolgen, erklärt Personaldirektorin Kugel. Dafür stünden dem Unternehmen Instrumente wie Weiterqualifikation, Altersteilzeit, vorzeitige Pensionierung, Beschäftigungsgesellschaften oder Abfindungen zur Verfügung.

Vor der historischen Konzernverwaltung am Rohrdamm soll eine Adler-Stele an die in den Weltkriegen gestorbenen Mitarbeiter erinnern

Groß ist auch der politische Druck auf den Konzern, der gerade für den Aufbau der ostdeutschen Standorte mit reichlich Fördermitteln bedacht wurde. Für das Dampfturbinenwerk in Görlitz hat er nicht nur eine Bestandsgarantie bis 2023 gegeben, sondern schon Plan B vorgestellt: Joe Kaeser schwebt ein „Industriekonzept Oberlausitz“vor – mit bis zu 14.000 neuen Jobs, etwa in der Fertigung von Batterien und anderen Stromspeichern.