Freundliche Übernahme

Die Doppelausstellung der Stadtgalerie Kiel und des Kunstvereins K34 unternimmt eine Zeitreise durch 50 Jahre unabhängige Kunstszene der Stadt. Wäre der Kunstverein nicht aus seinen Räumen geflogen, hätte es diese Ausstellung gar nicht erst gegeben

1976 ein Aufreger: die Koffermauer-Klagemauer des Kieler Künstlers Raffael Rheinsberg Foto: Frank Keil

Von Frank Keil

Zehn Meter lang ist sie und zwei Meter hoch, die Mauer aus Koffern. Sie ist eigentlich gar nicht für einen Ausstellungsraum gemacht, sondern für den öffentlichen Raum und stand schon auf Plätzen und Straßen in Kiel, Berlin und München. Als der Kieler Künstler Raffael Rheinsberg 1976 die Koffermauer-Klagemauer erschuf, war das ein Aufreger. Schließlich verwies Reinsberg mit seinem Kunstwerk auf das Schicksal der Deportierten, der Vertriebenen, der Flüchtenden, von denen am Ende eben nichts als ein Koffer übrig bleibt. Womöglich findet sich noch ein Schild, ein Anhänger, ein Aufkleber, der wenigstens einen Namen, eine Adresse, ein anvisiertes Ziel preisgibt. Heute wird die Koffermauer als Dauerleihgabe von der Kieler Stadtgalerie verwaltet und derzeit ist Rheinsbergs vielleicht wichtigstes, in jedem Fall sein bekanntestes Werk, in Kiel zu sehen – ß in der Ausstellung „Kiel Off – Projekträume im Rückblick“.

Die Stadtgalerie Kiel ist mit dieser Ausstellung zu Gast am Vinetaplatz, in den ehemaligen Räumen des Kieler Kunstvereins K34. Dem Verein wurden zuvor die Räume am Vinetaplatz gekündigt. Das war zu erwarten, denn die Vonovia-Wohnungsgesellschaft, der das Gebäude gehört, hatte die Fläche, in der einst ein Schlecker-Markt die örtliche Bevölkerung mit Scheuersand, Zahnpasta und allerlei Kosmetika versorgte, der Künstlerinitiative in den vergangenen Jahren kulant zu einer eher markt­unüblichen Miete überlassen. Doch nun wollte man zurückkehren zum marktüblichen Geschäftsgebahren und beendete das Mietverhältnis.

Zum Glück fanden die K34-Macher*innen gleich in einer der nächsten Straßen ähnlich gute und vor allem dauerhaft zu mietende Ladenräume, garniert mit einem langfristigen Mietvertrag. Es hat eben seine Vorteile, nicht auf den Goodwill eines Gönners angewiesen zu sein, weil langfristig geplant werden kann.

Kleines Problem: Die neuen Räume mussten bereits bezahlt werden, die alten aber auch noch. Zu viel Geld für eine frei flotierende Künstlerformation, die stets zu wenig Geld hat. Die Kieler Stadtgalerie sprang ein und bespielt die Ex-K34-Räume nun bis zum regulären Ende des Mietvertrags. Ein schöner Zug einerseits, andererseits auch gelebte Unterstützung, kennt man sich doch seit Längerem und schätzt sich. „Es handelt sich also nicht um die übliche Verdrängung, sondern im Gegenteil um eine freundliche Übernahme“, sagt Detlef Schlagheck, der so etwas wie das inoffzielle Haupt der K34-Gruppe ist.

Eine Schau, zwei Orte

Schnell ist die Idee geboren, die Ausstellung „Kiel Off – Projekträume im Rückblick“ nicht streng getrennt in zwei verschiedenen Kunsträumen für sich zu präsentieren, sondern alles tatkräftig durchzumischen. Entsprechend sichtete die auch zum Sammeln verpflichtete, vergleichsweise etablierte Stadtgalerie ihr Depot auf ihren Bestand an vormaliger Off-Kunst, die sich nicht zuletzt durch ihren Ankauf auf die möglicherweise nächste Stufe hievte.

Zugleich machten sich die ungebundenen und vergleichsweise unetablierten K34-Künstler*innen an die Arbeit, mit der Eröffnungsausstellung in ihrer neuen „Onspace“-Galerie auf die Arbeiten ihrer Kolleg*innen künstlerisch zu reagieren. Nicht unwichtig schon das Moment der Repräsentanz: Die Titel zu den Arbeiten aus dem Fundus der Stadtgalerie sind auf kleinen Schildchen gedruckt; die Titel der Künstlerarbeiten aus dem K34-Umfeld finden sich handschriftlich notiert auf Karteikarten.

Zweifach listig greift Detlef Schlagheck das Spannungsverhältnis zwischen anzustrebender Professionalität und zuweilen verspielt-lockerer Verweigerungsaura auf: Er hat gleich die Eingangswand der neuen K34-Räume unter Rückgriff auf die Kofferkunstwelt des Raffael Rheinsberg mit einigen Koffern bestückt. Die aber im Gegensatz zu Rheinsbergs schier stummen Koffern eine entscheidende Modifikation aufweisen: Sie haben angeschraubte Räder, also gewissermaßen Beine bekommen. Dazu kommt eine simple Holzlatte und schon kann man den sonst seitlich so mühsam zu tragenden Koffer wie einen Trolley hinter sich herziehen. Was die K34-Aktivisten, als sie unlängst ihre letzten Sachen packen und abtransportieren mussten, gleich zu nutzen wussten und eine Art künstlerische Koffer-Prozession veranstalteten. „Umzug ist eine wichtige Vokabel in Off-Space-Räumen“, sagt Schlagheck. „Die Herstellungskosten waren minimal, also eine runde Sache.“

Rätselhaft, nicht verstörend

Nicht minder tricky ist seine Kommentierung einer im Besitz der Stadtgalerie befindlichen und nun ausgestellten Farbfeld-Arbeit von Daniel Hörner, die quasi stellvertretend gewisse Bedingungen aktueller Kunst erfüllt: Sie ist in Form und Farbe hübsch anzusehen, aber nicht figurativ eindeutig zu übersetzen. Sie ist ein wenig rätselhaft, aber dabei nicht verstörend.

Ihr stellt Schlagheck die lebensgroße Fotografie der Rückansicht eines Passanten in einer Art Jogging-Anzug aus der Nachbarschaft gegenüber, eine Aldi-Plastiktüte mit ihren grafischen Linien aus Blau und Weiß hat er zu seinen Füßen neben einem Rucksack abgestellt. „In der Aldi-Tüte steckten seine Sachen, da ist nichts inszeniert“, sagt Schlagheck. „Wie der Mann von vorn aussieht, wie er heißt, das ist nicht wichtig. Ich kenne ihn hier aus der Gegend, das muss reichen.“

Hier ist nichts inszeniert: Lebensgroße Rückansicht eines Passanten Foto: Detlef Schlagheck/Kunstverein K43

In diesem Tempo geht es weiter: Brockmann-Preisträger Benjamin Mastaglio hat in der neuen K34-Galerie „Onspace“ eine Wandnische vermessen, dann aber seine beeindruckend hypnotische Wandarbeit Farbstreifen für Farbfeld im Atelier entwickelt und erprobt – und vor Ort akribisch dann umgesetzt. Von Marlis Kuhn ist eine schön gerahmte Abstraktion unter Glas zu bewundern, während K34-Künstlerin Ju Hyun Lee einen Raum mit einer Art Kathe­drale aus quietschegrünen Maispops sehr ruppig bestückt hat; noch dazu hat sie einen Nachbarsjungen eingeladen, doch einfach eine Wand mit einem Graffito zu verzieren. Sie selbst ist als Mona-Lisa-Double zu betrachten.

Sehr turbulent ist die Materialschau von Victor D, der unter anderem ein Rohr durch die frisch geweißte Wand getrieben hat. „Er hat nie wirklich eine Antwort gegeben, was das werden soll“, sagt Schlagheck und deutet auf die verschiedenen Materialien, die Wände und Boden bedecken, möglicherweise sind sie achtlos hingestreut, vielleicht auch bewusst taxiert ausgelegt: „Mag sein, das manch Betrachter da wie der Ochs vom Berg steht, und vielleicht ist das Werk auch sperrig, aber ich finde es interessant“, sagt Schlagheck. Ihr Titel ist schließlich: „Fertig, nicht fummeln“.

Schabernack, konserviert

Sehr beeindruckend ist nicht zuletzt eine Arbeit von Matthias Meier und Ingo Gerken, die einst ab 1989 den Off-Kunstraum Prima Kunst in der Kieler Straße Fleethörn bespielten, der bald in einen Container umzog, der im Foyer des Neuen Kieler Rathauses steht, in dem die Stadtgalerie ihre Räume hat. Bevor die beiden Künstler damals den Estrich­boden erneuerten, zogen sie sich Schlittschuhe an, griffen zu Eishockeyschlägern und lieferten sich ein slapstickreifes Duell mit Puck, das mittels eines heute längst verrauschten Schwarz-Weiß-Video konserviert wurde.

Nicht nur eine klassische Schabernack-Aktion, sondern mittlerweile auch eine schöne Persiflage auf all die Videokunst jener Jahre, an der sich längst die nächste Generation junger Kunstwissenschaftler*innen abarbeitet.

Ausstellung „Kiel Off – Projekträume im Rückblick“: bis 8. April, Stadtgalerie zu Gast am Vinetaplatz, Elisabethstr. 68a, und Kunstverein K34 „Onspace“, Iltisstr. 10, beide in Kiel-Gaarden