30 Jahre Drogenersatztherapie: 15 Milliliter, jeden Tag

Seit 29 Jahren nimmt Roland Beinhard Methadon. Kaum einer macht das länger als er. Vor 30 Jahren begann die Drogenersatztherapie in Deutschland.

Roland Beinhard vor der Krisenhilfe in Bochum

Roland Beinhard vor der Krisenhilfe in Bochum. Hier holt er täglich sein Methadon Foto: Volker Wiciok

BOCHUM taz | Schore, Aitsch, etwas Braunes oder Mat? „Was soll’s?“ Roland Beinhard benutzt die Wörter nicht mehr, „ich sag, was es ist: Heroin“, sagt er und es fallen ihm die Augen zu beim Sprechen. Eine Stunde zuvor hat er seine Dosis Methadon geschluckt, 15 Milliliter in Apfelsaft, „ein ganzer Haufen“. Langsam setzt die Wirkung ein. Viele Drogenabhängige kriegen weniger als er, Metin zehn, Alex drei, Doris weiß nicht genau. Bibi kriegt mehr als Beinhard, „wegen HIV“, sagt sie. Der Computer im Methadon-Ausgaberaum hat die Menge am Automaten exakt abgefüllt, Beinhard hat’s getrunken, hat den bitteren Cocktail geschluckt, nicht wegen der Erlösung, sondern wegen der Kontinuität, und danach das Glas leer wieder abgestellt. „Schmeckt ekelhaft“, sagt er.

Beinhard bekommt das Zeug in der Krisenhilfe in Bochum, Viktoriastraße 67. Ein Bermudadreieck sei der Kiez, soll heißen: Unterhaltungsviertel, Rotlicht, Ort, wo man untergeht. Dazwischen Gotteshäuser. Neben der Methadon-Ambulanz hat die Krisenhilfe in der Viktoriastraße auch ein Café, wo sich Süchtige treffen, einen Druckraum, in dem Abhängige in sicherer Umgebung Drogen inhalieren oder sich spritzen können und die medizinische Notfallversorgung.

Die Methadonausgabe, zu der Beinhard täglich pilgert, ist im ersten Stock. In der Küche neben dem Ausgaberaum steht Heinrich Elsner, „der Doc“. Alle nennen den ärztlichen Leiter so. Theologe, Arzt, Psychiater, Psychotherapeut ist er. Seelsorger, Seelenklempner. Er kocht Kaffee. Auf den Sofas in der Ecke sitzen ein halbes Dutzend Männer, manche langhaarig, manche mit Basecaps, fast alle tätowiert. Hi Soundso, hi Soundso, hi Soundso. Die, die sich hier treffen, sprechen die Namen bei Begrüßungen nicht aus; was ihnen über die Lippen kommt, gleicht einem freundlichen Gemurmel und das, worum ihre Gespräche kreisen, sind Wiederholungen: Drogen, Fußball, Geld, Frauen, „wo man was bekommt, was man den ganzen Tag macht, wo man was verkaufen kann“, Beinhards Worte.

Der Sound in der Küche irritiert. Da ist dieses Abgehackte bei den einen, sie reden, als wären sie schon beim Ausatmen vor dem ersten Wort fertig mit der Welt, und bei anderen hat die Sprache etwas Schleichendes, als schleppten sich die Gedanken hinter dem Gesagten her.

Der Doc steht dabei, drahtig, aufmerksam, reicht die Tassen rüber, „wie geht’s, alles klar?“ Sein Blick scannt die Haut, die Haltung, die Bewegungen der Substituierten, sein Ohr lauscht auf das Tempo der Worte. „So bin ich nah dran an den Leuten“, sagt er.

Ein Mangel, der ihn aushöhlt

Roland Beinhard, der bleich ist, die Haut im Gesicht wässrig, die Bartstoppeln grau, geht es so lala, noch klagt er nicht, noch guckt er, auf was er sich einlässt. Von denen, die sich hier täglich ihr Methadon abholen, ist er am längsten dabei. 29 Jahre. Länger geht kaum. Denn die ersten Modellprojekte für Drogenersatztherapie waren nur wenige Monate zuvor, im März 1988, in Bochum, Essen und Düsseldorf eingerichtet worden. Es dauerte ein paar Wochen, bis Kunden, Klienten, Patienten – ja was nun? – bedient, behandelt, versorgt werden konnten. „Ich war der Erste“, sagt Beinhard. Er, dieser Methadon-Veteran, will zum Jubiläum der Methadonsubstitution von sich erzählen, von seinem ferngesteuerten Leben, in dem es vor allem eines gibt, nämlich einen Mangel, der ihn aushöhlt und leer zurücklässt, sehr leer.

Das hätte er noch nie gemacht, über sich gesprochen „inna Zeitung“, jetzt sei der Moment, „krieg ich Geld dafür?“ Kriegt er nicht, aber Geld ist für Beinhard ein wichtiges Thema: Er versteht nicht, dass er nur 200 Euro Hartz IV bekommt, der Rest werde, meint er, wegen „angeblicher“ Schulden abgezogen, und spätestens ab dem Fünfzehnten eines Monats muss er „stehlen oder was?“. Es klingt, als wären die Mitarbeiter von der Krisenhilfe schuld an seiner Misere, denn die täten nichts dafür, dass er den ganzen Hartz-IV-Satz kriegt, wie sie ihn auch nicht ins Take-home-Programm nehmen würden. Er bekommt also kein Methadonrezept für das Wochenende mit. Er muss jeden Tag in die Viktoriastraße kommen, samstags und sonntags auch.

„Ich hab mir so ’ne Mühe gegeben, aber ich komme nicht auf Take-home. Ich bin sauer. Da sind welche, die Faxen machen und Take-home kriegen und ich nicht.“ Was Faxen sind? „Na, dass man das Methadon vertickt.“ Welchen Stoff die dann stattdessen nehmen? „Heroin oder die holen sich was aus der Apotheke“, sagt Beinhard. Und der Doc sagt später, dass es da viele Möglichkeiten gebe und dass „die Leute schon wissen, was hilft.“

Ein Mann mit einer Zigarette im Mund, die an einen Joint erinnert, im Hintergrund andere Personen vor der Krisenhilfe

Die Leute vor der Krisenhilfe in Bochum spielen mit den Klischees von Drogenabhängigen Foto: Volker Wiciok

Dass die Leute wissen, was hilft, sagt er. Nicht: was flasht, was kickt, was turnt, was knallt. Solche Nuancen sind wichtig. Keine Methadon-Substitution ohne soziale, medizinische und psychische Betreuung, „täglich ein psychotherapeutischer Kurzkontakt“, fordert er. So ähnlich steht es sogar im Gesetz. Nur finanziert werde von den Krankenkassen vieles nicht.

Abhängigkeit, dieses Monster

In Deutschland gibt es nach Schätzungen der Deutschen Hauptstelle gegen Suchtgefahren 100.000 bis 150.000 Heroinabhängige. Etwa 75.000 werden mit Methadon oder anderen Opioidersatzstoffen behandelt. Das klingt viel, die Zahl derer jedoch, die abhängig sind von süchtig machenden Schlaf-, Schmerz- oder Beruhigungstabletten, ist um ein Vielfaches höher – bis zu drei Millionen könnten es sein, steht im Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung von 2016.

Der Beschaffungsdruck der Tablettensüchtigen ist anders als bei Heroinabhängigen, die einen verbotenen Stoff brauchen und sich so automatisch im kriminellen Milieu bewegen. Roland Beinhard saß viereinhalb Jahre im Knast. „Ständig klauen“, sagt er, „Einbrüche, Diebstahl, früher war das leichter als heute. Von den Eltern hab ich ja kein Geld bekommen.“ Wer dagegen von Tabletten abhängig ist, muss Geschichten erfinden, muss Ärzte dazu kriegen, das Medikament zu verschreiben.

Heroin ist ein Derivat aus Morphium, das aus der Mohnpflanze gewonnen wird. Es kann mit einer Nadel gespritzt, geraucht, inhaliert oder mit der Nase gezogen werden. Heroin löst ein Gefühl der Euphorie aus, darauf folgen wache und schläfrige Phasen. Es macht sehr schnell abhängig.

Methadon ist ein synthetisches Opioid. Es verursacht keinen Rausch und baut sich langsamer als Heroin im Körper ab. Daher entsteht kein Suchtdruck, der bei vielen, vor allem armen Heroinabhängigen dazu führt, dass sie einzig darauf fixiert sind, wo und wie sie die nächste Dosis bekommen.

Es gibt viele Wörter für Heroin. Hier sind einige erklärt:

Schore – ursprünglich geklaute oder durch Betrügerei erhaltene Ware. Der Begriff stammt aus der frühneuzeitlichen Sprache der Fahrenden und ist dem hebräischen „sehora“ für Handeln entlehnt.

Aitsch – ist lautsprachlich an den englischen Buchstaben H angelehnt. H wie Heroin.

Etwas Braunes – Heroin kann ein braunes Pulver sein.

Mat – Abkürzung von Material. „Hast du Mat?“

Seit Oktober 2017, als die Betäubungsmittel-verschreibungsverordnung – herrje, was für ein Wort – aktualisiert wurde, darf Methadon auch an Leute, die von Schmerzmitteln abhängig sind, gegeben werden. Ein nicht unerheblicher Teil sind ältere Frauen. Sehen würde man diese Sucht in der Öffentlichkeit nicht, meint der Doc. Er findet die Novellierung gut, wichtig, überfällig. „Opioide sind sehr gute Medikamente“, sagt er. Auch Heroin, das, anders als Alkohol, wenn es rein ist, die Organe nicht schädigt und bis 1958 legal erhältlich war. Wenn nur die Abhängigkeit nicht wäre.

Abhängigkeit, dieses Monster, sitzt Roland Beinhard seit fast 40 Jahren auf dem Schoß. Mit 17 hat er mit Heroin angefangen. Sein älterer Bruder sei in Indien gewesen, „hat Heroin geschmuggelt und versteckt“. Beinhard sah, wo er es hatte und wie man es macht. „So muss es gewesen sein“, sagt er. Dann hat er es auch genommen. Und? „War gut gewesen.“

Abstinenz war zu lange das Ideal

Er sitzt jetzt in einem abgewetzten Sessel im Kopierraum der Methadonambulanz, wo gewöhnlich die Eins-zu-eins-Gespräche stattfinden, und verschmilzt mehr und mehr mit dem Zimmer, in dem es nichts Farbiges gibt. Und ja, er erwähnt auch, dass es einen Stiefvater gab. Schläge. Und ja, er hat im Knast einen Beruf gelernt „Mechatroniker“. Und ja, er hat Hepatitis C, aber kein HIV. „Auf den Strich? Im Leben nicht.“

Beinhard, der 1962 geborene Wattenscheider, sagt, er sei 53. Er wiederholt das ein paar Mal, als sei er vor ein paar Jahren stehen geblieben. Denn Zeit, genau genommen, ist eine Belastung. Er hat zu viel davon. „Morgens steh ich auf, trink Kaffee, zieh mich an, trink noch ’n Kaffee, Zigaretten keine, das bringt mir nichts mehr.“ Dann geht er los in die Viktoriastraße. Bis halb 11 Uhr wird Methadon ausgegeben. „Und nachmittags, wenn man nach Hause kommt, Internet anmacht, ist die Außenwelt völlig weg.“ Gehe er doch mal in den Park, fange er an zu grübeln, „dass ich nichts auf die Reihe gekriegt habe. Da bleib ich lieber zu Hause.“

Die Bochumer Krisenhilfe wurde 1975 gegründet. An der Geschichte des Projekts spiegelt sich, wie Drogensucht wahrgenommen wird. Vorbeugung, Aufklärung, Entgiftung – das war der Anfang. Beinhard hatte schon früh Kontakt zum Projekt. Eine ehemalige Mitarbeiterin, die im Nachhinein findet, auch sie habe früher Abstinenz zu sehr als Ideal gesehen, erinnert sich an ihn und seine vier Brüder. „Alle auf Drogen. Alle große, sehr schöne Männer.“ Es schmeichelt Beinhard, als er das hört. Wegen der Brüder bat der Doc, dass der Name geändert wird. „Tun Sie mir diesen einen Gefallen.“ Beinhard heißt in Wirklichkeit also anders.

Heinrich Elsner hält vor einem Tresor kniend eine Flasche Methadon in der Hand

Heinrich Elsner, von allen „der Doc“ genannt, ist Psychiator, Seelsorger und ärztlicher Leiter Foto: Volker Wiciok

Was mit Beinhards Brüdern jetzt ist? „Sind runter“, sagt er. Nur er nicht. An ihm klebt der Stoff. Er klebt an ihm in echt und als Phantasma. Einmal im Gespräch meint er, hätte er Geld, würde er sich Heroin besorgen. Ein paar Tage später sagt er, Heroin würde ihm nichts mehr bringen, würde nichts mehr mit seinem Körper machen, er müsste so viel nehmen, dass es tödlich wäre. Seit zehn Jahren sei er nur noch auf Methadon. Blöd sei, dass es ihn „müde macht und down“. Die Lust auf Frauen sei auch weg. In dem Augenblick dringt die Sirene einer Feuerwehr bis in das kleine Zimmer. Ein Feuer wird gelöscht.

„Heroin hat auch eine seelische Wirkung“

Methadon ist ein synthetisches Opiat, ursprünglich 1937 bei den Farbwerken Höchst entwickelt. „Ein sehr wichtiges und gutes Medikament, weil es den Opiathunger unterdrückt“, betont der Doc. Seit 2005 steht es auf der Liste der unentbehrlichen Arzneimittel der Weltgesundheitsorganisation WHO. Aber: Auch Methadon macht abhängig.

Wenn Elsner die Wirkungen von Methadon gegen die von Heroin aufführt, wird seine Stimme schneller, angespannter. Denn beim Umgang mit Drogensucht sieht er noch immer die Bestrafungsmentalität am Werk, die so lange verhindert hat und weiter verhindert, dass Abhängige das Mittel bekommen, das sie brauchen. Denn unberücksichtigt bleibe, dass „Heroin eine seelische Wirkung hat“, er liebt das Wort „seelisch“.

Heroin löst Glücksgefühle aus, die normalerweise durch die körpereigenen Endorphine hervorgerufen werden. Höher und länger dosiert kann es auch bei vielen schwerwiegenden psychischen und psychosomatischen Beschwerden sehr gut helfen, „bei Schizophrenie, bei Depression“ zählt Elsner auf, „weil es offenbar, aber das ist jetzt nicht wissenschaftlich formuliert, die Gedanken ordnet“. Das könne Methadon in hoher Dosierung zwar auch, aber es macht nicht high – die Wirkung hält allerdings länger an, man muss es nur einmal am Tag nehmen. Die, die es nehmen, können ihren Alltag meistern, einer Arbeit nachgehen, erklärt er. Von den 90 Abhängigen, die derzeit bei der Krisenhilfe Methadon bekommen, gelingt das etwa zehn. „Man kann ziemlich nüchtern mit Methadon leben, es unterdrückt den Suchtdruck.“

Suchtdruck ist diese Fernsteuerung im Kopf der Drogenabhängigen, wenn alles nur noch darum kreist, wo sie die nächste Dosis her bekommen, wenn sie dafür klauen gehen, nichts mehr essen, sich prostituieren, Krankheiten verschleppen. Elsner, der Doc, geht davon aus, dass drei Viertel der 250 Leute, die jeden Tag in die Viktoriastraße 67 kommen, psychisch krank sind. Er findet, dass das nicht okay ist, dass Menschen, die wegen seelischer Probleme Heroin nehmen, in die Illegalität und Kriminalität getrieben werden, und dass man ihnen das, was ihnen eigentlich hilft, vorenthält. Der quirlige Doc will, dass nachgedacht wird.

Ausschlaggebend war die HIV-Epidemie

Entzug und Abstinenz waren die Credos vor 1988. Dabei liegen die Rückfallquoten bei Heroinabhängigen nach Drogenentzügen um 90 Prozent, sagt der Doc. Und selbst wer die Übelkeit, die Schmerzen, das Zittern, die Schweißausbrüche, das Frieren, den Durchfall, den Zusammenbruch des Kreislaufs, die Auflösung des Selbst durchstand, hatte die Ursachen für sein Verlangen nach Heroin nicht behoben. Was ist so toll an Heroin? „Ich spritze Glück, Seelenfrieden, Seelenruhe“, sagt Roland Beinhard, „natürlich hält’s nicht lange.“ Der Mensch gewöhnt sich daran, die Dosis muss erhöht werden, der Druck nimmt zu.

Schon in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts hatte der amerikanische Pharmakologe Vincent Dole und die Psychiaterin Marie Nyswander Süchtige von Heroin auf Methadon umgestellt und nachgewiesen, dass dies die Abhängigen aus dem kriminellen Kreislauf herausführte. Zwanzig Jahre später waren es bereits 85.000 US-Amerikaner und US-Amerikanerinnen, die mit Methadon substituiert wurden. Viele darunter Vietnamveteranen.

Zwei Männer bereiten sich darauf vor, Drogen zu spritzen

Im Druckraum können Abhängige in einer sicheren Umgebung Drogen nehmen Foto: Volker Wiciok

In Westeuropa war die Vergabe von Methadon im Jahr 1988 nur noch in Deutschland und in Norwegen verboten. Hardliner wie der damalige Drogenbeauftragte der Bundesrepublik, Manfred Franke, der öffentlich kundtat, solange er etwas zu sagen habe, gebe es keine Substitution, trafen auf Ärzte, die illegal mit opioidhaltigen Mitteln substituierten, sowie Politiker wie den damaligen Gesundheitsminister von Nordrhein-Westfalen, Hermann Heinemann, der sich die Substitutionspraxis in anderen Ländern anschaute und am Ende die Modellversuche in Bochum, Essen und Düsseldorf durchboxte.

Ausschlaggebend war da schon gar nicht mehr die Einsicht, dass der kriminelle Kreislauf von Drogenabhängigen durchbrochen werden muss, sondern die HIV-Epidemie. Anhand von Blutuntersuchungen inhaftierter Fixer wird der HIV-Virus 1982 zum ersten Mal bei Drogenabhängigen in Deutschland nachgewiesen. Drei Jahre später hatten bei einer Untersuchung im Berliner Tropenmedizinischen Institut von 80 drogenabhängigen Männern und Frauen bereits zwei Drittel den Antivirus im Blut. Übertragungswege waren: gemeinsam genutzte Spritzen und Geschlechtsverkehr. Geschätzt wird, dass mindestens drei Viertel der weiblichen Süchtigen mit Prostitution zumindest zeitweise Geld beschaffen.

Ist es falsch zu behaupten, nicht die Sorge um die Drogenabhängigen, sondern die Sorge um die Männer, die Prostitution in Anspruch nehmen, hätte letztlich dazu geführt, dass die Methadon-Substitution sich durchsetzte? „Das ist nicht falsch“, sagt der Doc.

Neue Probleme, neue Lösungen

Wer damals ins Methadon-Programm wollte, musste mehrere Jahre Heroin gespritzt und zwei dokumentierte Entzüge hinter sich haben. Bei HIV-Positiven oder Schwangeren waren die Hürden nicht so hoch.

Heute ist der Zugang zum Programm leichter. Aber nicht nur die politisch Verantwortlichen, auch die Leute, die mit Drogenabhängigen arbeiten, haben dazugelernt. „Wir sind mit unseren Klienten alt geworden“, sagt Silvia Wilske, die pädagogische Leiterin der Krisenhilfe. Anfänglich etwa war die Methadonabgabe räumlich von der vorgeschriebenen psychosozialen Betreuung getrennt. „Die haben im Krankenhaus das Methadon bekommen, aber bei uns sind sie nicht angekommen.“ Deshalb ist jetzt alles unter einem Dach.

Der Umgang mit HIV, der Umgang mit drogenabhängigen Aussiedlern, neuerdings die Unterstützung von drogenabhängigen Flüchtlingen – für alles müssen sie immer wieder neue Lösungen finden. Dass Drogenabhängige oft keine Krankenversicherung haben, dass sie obdachlos sind. „Auch dass mit Methadon substituierte Frauen wieder ihre Menstruation bekommen, die mit Heroin meist ausbleibt, war plötzlich ein Problem“, erklärt Wilske, die selbst drei Kinder hat. Begleitung von Schwangeren musste organisiert werden. Methadon und reines Heroin schädigen die Embryos nicht organisch, wie etwa Alkohol und Nikotin, aber die Babys müssen nach der Geburt erst einmal einen Entzug machen. „Jetzt stehen wieder neue Probleme an: die alt gewordenen Junkies“, sagt Wilske, die fast so lange in der Krisenhilfe arbeitet, wie es sie gibt. Viele Drogenabhängige seien noch nicht sechzig und doch so hinfällig, dass sie in Altenpflegeheimen untergebracht werden. „Da passt nichts zusammen.“

Auch die Drogenszene wird nun ausdifferenzierter gesehen. Es gebe Szenemeider, Szenegänger, Szenebewohner, sagt Elsner, der Doc. Eine Szenemeiderin ist die Mutter, die nachmittags, wenn das Café, der Druckraum und die Methadonambulanz zu sind, mit ihrer elfjährigen Tochter vorbeikommt und dieser, noch im Treppenhaus stehend, die Tür zum Zimmer zeigt, in dem sie jeden Morgen das Methadon bekommt. Jemand fragt, wer sie sei. Leise antwortet sie, dass sie die Erlaubnis habe, ihrer Tochter zu zeigen, wo ihr geholfen werde. Seit Jahren sind etwa ein Viertel der Substituierten Frauen. Die Zahl aller Substituierten mit Migrationshintergrund hingegen steigt. 2016 waren es etwa 40 Prozent.

Bibi, Kuba und die Schneekönigin

Im Café in der Viktoriastraße 67 im Erdgeschoss treffen sich die Szenegänger und -bewohner. Manche, die auf Methadon sind, nehmen noch etwas dazu: Drogen, Tabletten, Kokain, Alkohol. Alex ist da, Aussiedler aus Kasachstan. Jedem, der zuhört, sagt er, dass er Angst hat vor einem neuen Kalten Krieg. An einem Tisch stehen Metin, halb deutscher, halb türkischer Herkunft, und Bibi, deren Vater Grieche ist. Sie zeigt das Tattoo an ihrer Hand: ein verschwommenes mehrblättriges Hanfblatt, „das Szenezeichen“, erklärt sie.

Beide wollen über ihre zerrupften Leben sprechen, es schmerzt sie, dass es hier dann auf Stichworte schrumpft. Metin ist irgendwie an seiner Bikulturalität zerbrochen. Und seine deutsche Mutter, die ihm oft Geld gegeben habe für Drogen, sei seit sechs Jahren tot. Bibi wiederum sei den Weg ihres Vaters gegangen. Der kam aus dem Alkohol- und Zuhältermilieu. Sie hat zwei Kinder, beim ersten hätte sie gemerkt, dass sie schwanger war, und habe sich „runterdosiert“. Beim zweiten nicht. „Das war nicht gut.“ Beide Kinder leben in Pflegefamilien. Susanne wiederum spricht nicht über ihr Leben, zeigt aber die Abszessnarben an ihren Beinen, die sie vom Heroinspritzen hat.

Susanne spricht nicht über ihr Leben, zeigt aber die Abszessnarben vom Heroinspritzen Foto: Volker Wiciok

Auch vor dem Café stehen Leute. Kuba, der Dealer, nicht abhängig sei er, und Milli, „die Schneekönigin“, seine Freundin, „seit 32 Jahren bin ich drauf“, sagt sie. Morgens wirkt die 51-Jährige fesch und klar und posiert für den Fotografen. Nachmittags, wenn die Krisenhilfe geschlossen ist und sie noch immer davor steht, sieht sie fahler aus, älter, geschrumpft. Das käme vom Alkohol. Sie holt eine Flasche Wodka aus ihrer Tasche, trinkt, steckt sie wieder ein und erzählt von ihrem Sohn, der bei einem Schwulenpaar aufwächst. „Alle haben mich gefragt, wie ich ihn bei Schwulen lassen könne.“

Das Café ist ein Anlaufpunkt für alle, die Suchtprobleme haben. Wasser kostet 20 Cent, Bier darf mitgebracht werden. Warmes Essen gibt es auch. In einer Ecke hängt die Liste der verstorbenen Szenebewohner. Beinhard zeigt sie. Jedes Jahr im Sommer gibt es eine Feier für die Toten, sagt er und beantwortet auch noch leise diese Fragen:

Worüber können Sie sich freuen?

Worüber ich mich freuen soll? Ich freue mich, wenn ich mein Geld bekomme, aber nicht lange, weil es so wenig ist.

Was macht Sie traurig?

Dass die Jahre nichts gebracht haben. Nichts ist passiert. Ich war in so einer Blase. Da war so viel gewesen, was nicht war.

Ob das Leben ihn verlor?

Es hat mich nie gehabt.

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