UN: Weniger Tschernobyl-Tote

Eine Studie kommt zum Schluss, dass der GAU insgesamt 4.000 Menschenleben fordern wird. Bisher lagen die Schätzungen bei mehreren zehntausend Opfern

WIEN taz ■ Tschernobyl hat möglicherweise weniger Menschen getötet und kontaminiert als bisher angenommen. Mit dieser Erkenntnis überraschte das so genannte Tschernobyl-Forum jetzt auf einer Konferenz in Wien. Der Bericht des Forums setzt die Prognosen der erwarteten Todesfälle und Krebserkrankungen viel niedriger aus als bisher befürchtet, nämlich bei rund 4.000. Gravierender seien die Folgen des Nuklear-GAUs vom 26. April 1986 für die Psyche der Betroffenen und die Wirtschaft. Das Tschernobyl-Forum besteht aus acht Spezialorganisationen der UNO sowie den Regierungen von Weißrussland, Russland und der Ukraine.

Das von über 100 Experten erstellte Papier stellt fest, dass bis Mitte 2005 weniger als 50 Tote direkt auf die Strahlung durch den Unfall zurückgeführt werden konnten. Es handle sich vor allem um Rettungsarbeiter, die hoher Strahlung ausgesetzt waren. Frühere Studien hatten die wahrscheinliche Opferzahl bei mehreren zehntausend angesetzt, weil Langzeitfolgen bei der Bevölkerung in einem weiten Umkreis erwartet wurden.

Der neue Bericht sieht das nüchterner: Die meisten Notfallhelfer und Personen, die auf kontaminierten Flächen leben, weisen laut der Studie nur eine relativ geringe Menge an Strahlung im Körper auf. Für eine Abnahme der Fruchtbarkeit unter der Bevölkerung gebe es keine Beweise. Auch könnten keine angeborenen Missbildungen einer Aussetzung von Radioaktivität zugeschrieben werden. Weit verstreute Strahlung, „die weiterhin eine wesentliche Bedrohung der menschlichen Gesundheit darstellen würde“, konnte nicht festgestellt werden: „mit Ausnahme einiger Sperrgebiete“.

Neben den Todesfällen seien die Folgen für die psychische Gesundheit „das größte öffentliche Gesundheitsproblem, das vom Unfall verursacht wurde“. Der Bericht schreibt die schädliche psychische Wirkung zu einem Teil dem Fehlen von richtiger Information zu. Diese Probleme treten in einer negativen Einschätzung der eigenen Gesundheit, dem Glauben an eine verkürzte Lebenserwartung und einer Abhängigkeit von staatlicher Hilfe zutage.

Die Umweltorganisation Greenpeace kritisierte den Bericht gestern als Schönfärberei. So seien für die Ermittlung der Toten unter den so genannten Liquidatoren nur 72.000 russische Arbeiter berücksichtigt worden, von denen nach dem Einsatz am Atommeiler 212 starben. Es habe jedoch rund 600.000 Liquidatoren in den betroffenen Gebieten gegeben. Die Schlussfolgerungen des 600-Seiten-Berichts seien durch die Einzelstudien nicht gedeckt. Auch die Organisation „Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs“ erklärte, dass einige Aussagen der UN-Behörden „nachweislich falsch“ seien.

RALF LEONHARD