Endlich verständlich

Thomas Köcks Stück „paradies.fluten (verirrte sinfonie)“ ist eine wortmächtige Herausforderung, an der Regisseur*innen bislang scheitern. In Göttingen und Braunschweig klappt es jetzt gut – und beide Inszenierungen ergänzen sich ideal

Frische Perspektive auf die ausufernde Textfläche: Am Staatstheater Braunschweig kommt Köcks Text als Stück über Köck auf die Bühne Foto: Bjoern Hickmann

Von Jens Fischer

Alles entspannt, es droht nur mal wieder der Weltuntergang. Der Schöngeist Thomas Köck stürzt sich hinein ins endzeitliche Denken, designt riesige Textflächen damit, ohne Punkt und Komma, und verzichtet notorisch auf Großbuchstaben. Inhaltlich bezieht sich der österreichische Autor auf all die Kassandra-Rufe, Dystopie-Malereien, Club-of-Rome-Prognosen und schließt daraus: Ein Weiter-so des Weltbevölkerungswachstums, der Umweltverschmutzung, Nahrungsmittelproduktion und Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen führt unweigerlich zum Zusammenbruch des kapitalistischen Entwicklungsmodells und schließlich auch der Ökosysteme.

Zeit wäre also für revolutionär schillernde Schreibwut, für Heldengeschichten, in denen fürs Umsteuern gekämpft wird? Köck denkt nicht so. Er ahnt, solche Aufbruchsenergie zu literarisieren, wäre vergebliche Liebesmüh’. Die Menschheit hat sich zu sehr an apokalyptische Botschaften gewöhnt, als dass noch ein Impuls zum Handeln davon ausginge.

Köck nimmt also nur die Rolle des Chronisten der nahen Zukunft ein und lässt den Untergang auf sich zukommen. Eine Vernichtungsfantasie, wortmächtig beschrieben als allgewaltige Überschwemmung, was ökologisch naheliegend ist und als Sintflut gedeutet werden kann. „paradies.fluten“ heißt die Wortcollage, die 2015 in Osnabrück auszugsweise uraufgeführt wurde, jetzt landauf, landab auf den Spielplänen steht und in Göttingen sowie Braunschweig endlich verständlich inszeniert worden ist.

Ein von der Prophezeiung Vergessener und der von der Vorsehung Übersehene, das sind die Figuren, denen Köck die Wortkaskaden der Rahmenhandlung in den Mund legt. Die letzten Menschen bei ihrer letzten Zigarette: „Wir wissen, dass wir vernichtet sein werden.“ An ihnen vorbei donnert ein reißender Strom mit der Natur als Biomüll und Überresten menschlicher Kulturgeschichte: Erinnerungen vom Anfang bis zum Kollaps aller Dinge. Wie das auf die Bühne bringen?

Umschwirrt vom ineinander verknoteten Tanzensemble, das einem wogenden Bewegungskanon huldigt, boten die Schauspieler in Osnabrück mit hohem Tempo vor allem chorisch den assoziativ mäandernden Text dar, der die Evolution des Kapitalismus als Prinzip der Selbstauslöschung des Menschen zu analysieren versucht. Höchst belesen und sprachspielerisch prunkend. Die Worte-, Gedanken-, Materialfluten schwappten aber kaum gebändigt über das Publikum hinweg, sodass der Aufmerksamkeitswille schnell ertränkt war.

Deswegen dröselt Katharina Ramser sie in Göttingen nun szenisch auf und arbeitet zwei Erzählstränge heraus. Die Genese des Untergangs beginnt für Köck beispielhaft im Amazonasdschungel des 19. Jahrhunderts. Wie klassisch moralisches Empörungstheater kommen die Szenen daher. Während für die Kautschuk-Produktion endlos Regenwald zerstört, Monokultur betrieben und die indigene Bevölkerung versklavt wird, wollen die Bosse das verheerende Treiben mit dem Bau einer Oper kaschieren. „Wo der Markt hinfällt, muss Kultur eine Ausrede erfinden.“

Aber der junge Architekt des Musentempels wehrt sich, propagiert nachhaltiges Wirtschaften und humanistische Verantwortung, versucht Menschen gegen die Kolonisatoren aufzuwiegeln. Doch dem vom Bühnenhimmel fallenden Goldregen huldigen schließlich auch die Indios. Dagegen geschnitten sind Szenen einer zerfallenden Familie.

Ein stolz der Lohnarbeit entronnener Mechatroniker versucht den sozialen Aufstieg mit einem Reifenhandel-Start-up und wird während der Finanzkrise in den 1990er-Jahren gleich wieder von den Trümmern seiner Selbstständigkeit begraben. Monetär, mental und physisch ruiniert. Während die Tochter den Kulturbetrieb als knallhart neoliberal funktionierendes Selbstausbeutungssystem erlebt. Die Tänzerin schleppt sich von einem Projekt zum nächsten Workshop – in prekäre Verhältnisse.

Ein glutvoll agierendes Ensemble lässt die Figuren plastisch und die narrative Struktur deutlich werden. Historisch begründet Köck die Gegenwart und lässt das Private gesellschaftliche Schieflagen spiegeln. Der freie Markt frisst seine Kinder und die Natur gleich mit.

In Braunschweig inszeniert Marcus Lobbes den Text hingegen als Stück über den Autor: ein Exemplar des europäischen Jungintellektuellen mit „dem schlechten Gewissen eines Menschen, der die großen Zusammenhänge ahnt – und dennoch sein bequemes Leben nicht ändern kann“, wie Dramaturg Alexander Kohlmann notiert. Alle Schauspieler sind zurechtgemacht wie Köck auf einem im Netz kursierenden Porträt: mit 4-Tage-Bart, blauer Jeans, weißen Turnschuhen, schwarzem Hemd und Strickmütze.

Das Schauspielhaus ist inklusive des Parketts leer geräumt und so ein Raum geschaffen für acht Spielinseln – Zimmer einer schäbig-luxuriösen Altbauwohnung. Während die Schauspieler nun im Bad das Waschbecken reinigen, Spiegeleier in der Küche brutzeln, im Schlafzimmer T-Shirts zusammenlegen oder sich in der Wohnstube mit TV-Bildern über die Weltlage informieren, sprechen sie betont beiläufig den Köck-Text. Eben so, als würde ein Schriftsteller gerade halblaut vor sich hin denken, was die Welt wohl im Innersten zerstört.

Manchmal wird eine Idee auch gelüftet und aus einem Fenster hinausartikuliert oder im Publikum ausagiert. Für die Sentenzen über die Kautschukbaron-Oper geht es zurück ins Musikzimmer, um dazu einige Noten zu pianieren. Das Publikum stromert mittenmang herum, wobei das Schlendern viel wacher mitdenken lässt, als es in erschlaffter Sitzhaltung möglich wäre. Wer mag, kann jederzeit auch eine Weißweinpause im Foyer einlegen oder sich in den Rang zurückziehen und der Live-Video-Projektion des Geschehens folgen.

Das verdeutlicht den fragmentarischen Gestus des Köck’schen Bewusstseinstroms. Wirkte der Text in Göttingen als kritisch reflektierter Entwurf einer Welterklärung, erweist er sich in Braunschweig als anspielungsreiche Formulierung eines unspezifischen Unwohlseins. Larmoyant, teilweise eitel wirkt Köcks formulierungszauberisch verfasstes Schlaumeiern und stets abgefedert mit eleganter Ironie. Ein bodenloses Denkens ist es, das sich da allmählich verfertigt, aber nie verfestigt, immer folgenlos bleibt. Denken um zu denken. Also bin ich.

Damit gelingt der Regie eine wirklich neue, frische Perspektive auf den Stoff. Das Konzept bedingt aber auch, dass die zehn Darsteller immer nur Köck, nie eine der fabulierten Figuren spielen. Deren Einlassungen nur rezitieren. Betont ausdrucksschwach. Sodass die durchaus musikalisch komponierte Vorlage nie zu zehnstimmiger Sprachmusik wird, eher monoton dahinfließt und die Inhalte verschwimmen lässt.

Im Doppelpack aber ergänzen sich die Produktionen ideal. Braunschweig erklärt die Erzählhaltung, Göttingen die Erzählungen. Köck hatte schon im Vorwort des Stückes kokettiert: „nachspielen wird wie immer ans herz gelegt weil es für mehr als einen abend reicht“.

Nächste Aufführungen am Deutschen Theater Göttingen: Mi, 11. 4., + Do, 19. 4., 19.45 Uhr

Nächste Aufführungen am Staatstheater Braunschweig: Do, 12. 4., Do, 19. 4., + Sa, 28. 4., 19 Uhr