Ein herzloser Pfiff

Nach einer spektakulären Aufholjagd bei Real Madrid fühlt sich Juventus Turin durch den Schiedsrichter um einen historischen Erfolg gebracht

Wieder einmal der Größte: Cristiano Ronaldo im Zweikampf mit Miralem Pjanić Foto: reuters

Aus Madrid Florian Haupt

Gianluigi Buffon kam nach Mitternacht, mit Sonnenbrille am bis zur Brustbehaarung offenen Hemd. Dieser große Torwart ist ja längst Stil­ikone, er verkörpert Coolness mit Substanz, eine Lebenshaltung. Nie versteckt er sich hinter Phrasen, immer kann er die Wahrheiten des Platzes zu Weisheiten überhöhen, nach einem Pokalkick in der italienischen Provinz wie im Estadio Santiago Bernabéu von Madrid nach einem der größten Dramen der Champions-League-Geschichte. Natürlich stand er auch dort seinen Mann, auch wenn die Stimme zitterte und sich fast überschlug, als er begann, über die „Apotheose der Unfähigkeit“ zu sprechen.

Die 93. Minute also, in der Michael Oliver aus Ashington in Nordengland die Regie übernahm. Bis dahin folgte das Drehbuch dem Willen von Buffons Juventus, die das „Undenkbare“ geschafft hatte, wie es der gleichfalls charismatische Abwehrchef Giogio Chiellini später ausdrückte. Auswärts bei Real Madrid hatten die Italiener ein 0:3 aus dem Hinspiel ausgeglichen, sie waren mit „gesundem Irrsinn“ (Chiellini) auf dem Weg zum wohl größten Coup der Fußballgeschichte. Was für ein großartiger Trainer ist dieser Max Allegri, der immer wieder mit Spielern wie dem zweifachen Torschützen Mario Mandžukić, den sie bei Real nicht mal auf ihre Ersatzbank lassen würden, solche Husarenstücke zustande coacht. Was für eine Courage und was für ein Herz hat diese Mannschaft, wie heroisch warf sie sich in alle Schüsse und baute doch immer wieder geduldig ihre Angriffe auf. „Es war eine dieser Partien“, sagte Chiellini, „in denen du das Gefühl hast, dass du nie ein Tor bekommen wirst.“

Bis der ungesunde Irrsinn kam, aus Sicht der Juve jedenfalls. Bis Oliver tat, was jedem Erstsemester-Drehbuchschreiber in Hollywood sofort aus dem Skript gestrichen würde: Ohne Not machte er die ganze Story kaputt. Sicher, man konnte nach dem rohen Körpereinsatz des kantigen Medhi Benatia gegen Lucas Vázquez schon Elfmeter pfeifen. Aber man musste es nicht, Oliver wurde erst von seinem Torrichter dazu bewogen. Die Situation war nicht klar, darüber waren sich die meisten Beobachter einer Szene einig, über die nur despotische Rechthaber oder direkt Begünstigte wie Cristiano Ronaldo („Klarer Elfmeter, ich verstehe nicht, warum sich alle so aufregen“) eine einzige Meinung gelten lassen konnten. Eine Situation, die im Übrigen auch der Videobeweis nicht hätte klären können, weil sie eben Interpretationssache war. Und bei einer solchen gibt man in der 63. Minute vielleicht Elfmeter, aber nicht in der 93. – so jedenfalls die Argumentationslinie von Buffon, der das verkürzt („Fahr zur Hölle“) auch Oliver mitgeteilt hatte, weshalb der ihn auch noch vom Platz warf. Gegen Buffons Stellvertreter Wojciech Szczęsny verwandelte Ronaldo dann souverän den Strafstoß, als er in ihn der 98. Minute endlich ausführen konnte.

Das mit der Hölle meinte Buffon auch später noch genau so, als er ausgeführt hatte, dass kleinkarierte Gemüter wie Oliver nicht auf den Platz gehörten, sondern auf „die Tribüne mit Chips, Orangensaft, Coca-Cola, Sprite und der Familie“. Als der Tremolo in seine Stimme kam und er Sätze sagte, die wie Donner durch die Katakomben des Bernabéu hallten: „Diese Entscheidungen sind von einem Zynismus, den nur ein Killer haben kann, ein wildes Tier, jemand, der am Platz des Herzens einen Mülleimer hat.“ Zugetragen habe sich nicht weniger als ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sport“.

Buffon sprach von einem „Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sport“

Das Ende dieses epischen Spiels war von Polemik überstrahlt. Turins Präsident Andrea Agnelli erhob Verschwörungstheorien („Immer gegen die Italiener“), der gesperrte Real-Kapitän Sergio Ramos, ohne Erlaubnis im Spielertunnel (ihm droht eine Sperre fürs Halbfinale), legte sich mit Allegri an. Immerhin, während der Coach später im dunkelblauen Trenchcoat schon wieder entspannt mit „ciao, ciao“ entschwand, fand auch Chiellini noch Trost. „Eines Tages wird der Moment kommen, wo wir für unsere Anstrengungen und unsere Opfer belohnt werden.“

Auch Buffon? Unternimmt er jetzt doch noch einen letzten Anlauf auf die Champions League? Bisher geht die Tendenz klar zum Rücktritt, für sein Lebenswerk wurde er in Madrid trotz der hitzigen Lage mit Ovation verabschiedet. Dieser Abend werde nichts an seiner Entscheidung ändern, betonte Buffon. „Für mich ist es kein Problem, so zu gehen.“