Als die Mauer noch stand

Die Fotos von Ann-Christine Jansson und die Zitate aus Uwe Radas Roman „1988“ zeigen ein Kreuzberg, das sich selbst genügte, während in Polen vieles schon in Bewegung war

Und was hat uns Deutschen die Aufklärung genützt, hatte ich verdutzt zurückgefragt. Hat sie Auschwitz verhindern können? Schon im nächsten Moment war mir der Spruch unangenehm gewesen, weil ich bemerkt hatte, dass ich mit Auschwitz gepunktet hatte.

Von Ann-Christine Jansson
(Fotos) und Uwe Rada (Texte)

„Vorhin hatte ich den Eindruck, dass du mit mir schlafen willst. Sie nickte. Aber du musst dich entscheiden, sagte sie. Entweder ich gebe dir meinen Körper oder ich gebe dir meine Geschichte“

Wir haben uns angewöhnt, unser Erinnern mit zeitgeschichtlichen oder biografischen Zäsuren zu verknüpfen. Es sind jene symbolischen Daten, die alles in ein Vorher und ein Nachher einteilen.

Was aber ist mit den Jahren dazwischen? Den Vor- und Nachjahren? Haben wir uns wirklich angewöhnt, solche Jahre vornehmlich aus der Perspektive jener einschneidenden Ereignisse zu betrachten, die ihnen folgen oder vorangehen?

Wenn ich heute darüber nachdenke, war Wiola die einzige in diesem Sommer, die mich aus unserer Kreuzberger Selbstgewissheit herausreißen konnte. Was hatten wir damals geglaubt? Dass wir das Gepäck, das uns unsere Eltern mitgaben, einfach abwerfen könnten wie ein paar alte Klamotten? Dass wir uns nur schwarze Lederjacken überziehen müssen, um zu neuen Menschen zu werden? Und was, wenn wir die Jacken wieder ausziehen?

Das Jahr 1988 ist ein gutes Jahr, um Fragen wie diesen nachzugehen. Die Fotografien von Ann-Christine Jansson zeigen keinen Prolog zum Mauerfall, sondern ein Kreuzberg, das noch ganz von dem, was ein Jahr später geschieht, unberührt scheint. Einen in seiner Schrägheit unspektakulären Alltag, der einen Glauben macht, als wäre das schon immer so gewesen – und würde immer so bleiben.

Die Leute, die in Krakau auf die Straße gingen, waren genauso lebenshungrig wie bei uns. Junge Milchgesichter, entschlossene Mädchen, ein paar Hippies, die Malocher mit Schnauzbart. Sie alle hatten sich nicht klein kriegen lassen.

Doch die Taktfolge der politischen Ereignisse zeigt schon, dass sich etwas verdichtet: Demonstrationen gegen die Inszenierung Westberlins als Kulturhauptstadt und den IWF, die Besetzung des Lenné-Dreiecks.

Eine Stadt, die immer irgendwie im Versuchsmodus war. Eine Stadt, die ständig Superlative hervorbringen musste, um sich zu vergewissern, dass sie noch existierte. Dazu gehörte wohl auch der Titel einer europäischen Kulturhauptstadt, den sich der Westberliner Senat für 1988 an Land gezogen hatte.

Das Auffällige dabei: Die Mauer ist zwar allgegenwärtig, und dennoch drängt sie nicht ins Bild. Eher beiläufig steht sie da, sie gehört dazu, und so wird sie von Ann-Christine Jansson auch fotografiert. Nicht als Skandalon, sondern als Alltag, sie steht nicht im Mittelpunkt der Geschichten, die diese Aufnahmen erzählen, sondern ist ihnen eine Kulisse.

Wiola zog ungerührt die Augenbrauen hoch und erklärte, dass der Märtyrer in der polnischen Romantik Heldenstatus genieße. Wenn er für die Freiheit kämpfte, durfte er sogar in den Kugelhagel des Gegners rennen. Was habe ich damit zu tun, hatte ich gefragt. Was ist denn das, was du am 1. Mai veranstaltest, anderes, hatte sie geantwortet. Willst du etwa als Märtyrer in die Geschichte eingehen?

Aber Ann-Christine Jansson gibt sich nicht mit der Westberliner Selbstgenügsamkeit zufrieden, sondern reist 1988 auch nach Polen – und erlebt ein Land, in dem Stillstand und Veränderung nebeneinander stehen.

Und nun war ich vorhin auf der Landstraße durch Dörfer gefahren, aus denen die Händler vom Polenmarkt damals vielleicht gekommen waren. Jastrzębsko Stare. Nowy Tomyśl. Stary Bukowiec.

Auch Jan und Wiola, die Helden aus dem Roman „1988“ aus dem die Bildzitate stammen, waren 1988 von Kreuzberg nach Polen gefahren. Für die Polin Wiola nichts Ungewöhnliches, aber für den Kreuzberger Jan eine Zäsur. Er beginnt das Leben im Schatten der Mauer von außen zu betrachten.

Fotos und Texte sind deshalb auch eine Anregung: Die Grenzen zu überschreiten, die Perspektive zu wechseln, das Eigene zu hinterfragen. Das geht in jedem Jahr, dem der Zäsuren und auch denen dazwischen.

Ausstellung „1988“ im FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum bis 3. Juni