Die letzten Tabus

Das „eigenARTig“-Festival bietet hochkarätige inklusive Tanzkunst – und diskutiert im Rahmenprogramm die bisherigen Erfolge und zukünftige Herausforderungen

Tanzen als gelebte Inklusion im Nahkontakt: die Performance „Monkey Mind“ Foto: Yuri van der Hoeven/eigenARTig

Von Jens Fischer

Es lagen 15 Anmeldungen vor, doch 60 Interessierte sind zum Symposium des fünften internationalen „eigenARTig“-Festivals gekommen. Die Veranstalter sehen darin einen Hinweis, dass inklusive Tanzkunst nicht mehr nur ein winziges Nischenphänomen ist, sondern eine richtige Szene heranwachse. In Bremen, Deutschland – europaweit und international. Zeit also, mal zu fragen, was könnten die weiteren Wege, Orte und Ziele sein? Geht alles seinen normalen Gang hinauf zur Augenhöhe mit den etablierten Künsten?

Deutlich wurde: Die Zeiten sind tatsächlich vorbei, in denen das Bühnenschaffen von Menschen mit Behinderungen nur als soziale oder therapeutische Arbeit eingestuft wurde. Der seit Festivalgründung propagierte nächste Schritt soll mit internationalen Gastspielen verdeutlicht werden: Wie körperliche und/oder geistige Einschränkungen nicht als Manko überspielt, sondern als Vorteil inszeniert werden.

Diversität als Chance: „Also gegen die Nivellierung der perfekten Tanzkörper und ihrer virtuosen Bewegungen das Besondere herausstellen und als eigene Qualität ästhetisch nutzen“, wie die Kölner Choreografin Gerda König formulierte. Daraufhin wurde auch gefragt, ob inklusive Tanzkunst als eigene Gattung etabliert werden sollte: Mixed-abled Art? Gibt es eine Ästhetik der Inklusion? Nein, behauptete Journalist Georg Kasch, „es gibt unendlich viele“.

Zur Illustration der beiden Thesen geladen war die Choreografie „Monkey Mind“, die Lisi Estaras für Platform-K entwickelt hat, eine belgische Organisation, die auch Menschen mit Behinderung eine professionelle Tanzausbildung ermöglicht. Fünf Künstler sind auf der Bühne, drei von ihnen mit Trisomie 21 geboren. Aus einer lässigen Probensimulation heraus erkundet jeder die Möglichkeiten eines eigenen Motionskanons, in dem Bewegungsvokabular aus Alltag, Sport, Artistik und Ballett ausprobiert wird. Zum Vergleich führt Estaras die Versuche immer wieder parallel. Wenn sich das Quintett also gleichzeitig mit einem Move beschäftigt, sind fünf sehr individuelle Ausformulierungen zu sehen. Konzentrierte Geschmeidigkeit trifft auf hektisch überbordende Expressivität.

Besonderes Augenmerk gilt der Paarbildung: Tänzer und Tänzerin mit Down-Syndrom kommen in züngelnder Gier unbehindert schnell körperlich zur Sache, während sich die von keinerlei Chromosomen-Aberration gehandicapten Kollegen arg behindert an verkorksten Erotik-Posen abarbeiten. Schließlich soll über Kreuz geliebt werden. Hüftkreisen und Kopulationszuckungen deuten Lust aufeinander an.

Scheu liegt ein Paar dann nebeneinander auf dem Bühnenboden und reißt sich gegenseitig Härchen aus der Haut. Verspeist sie. Bis der Mann mit Trisomie 21 den Körper der Frau ohne Trisomie 21 mit zarten Berührungen zu erregen versucht, was sie ängstlich bis skeptisch verfolgt. Hier gibt es also noch eine Art Tabu. Während drumherum parytfidel gelebte Integration gehüpft wird.

Im gemischten Tanz gibt es noch eine Art Tabu, während drum herum die Party tobt

Ob solche Darbietungen zukünftig in geschützten Räumen stattfinden oder Teil des Mainstreamangebots werden sollen, damit beschäftigten sich Festivalmacher während des Symposiums. Sabine Gehm, Leiterin Tanz Bremen, antwortete mit einem klaren: sowohl als auch. Einerseits sei es wichtig, dass etablierte Festivals die Vielfalt der Tanzkunst, eben auch ihre inklusiven Varianten abbilden. Andererseits würden gerade reine Inklusionsfestivals das Netzwerken der Szene fördern.

Eine Quotenregelung bei der Vergabe von Fördermitteln und Gestaltung von Festivals wurde angeregt, damit stets Produktionen von und mit Menschen mit Behinderung sichtbar wären – ihre Präsenz normal würde. Praktischer Nebeneffekt: Immer mehr Spielstätten würden barrierefrei hergerichtet.

Kritisch fragte der Bremer Choreograf Rolf Hammes, was beim inklusiven Tanz eigentlich wo hineininkludiert werden soll – und warum? Wer habe sich woran anzupassen? Statt Integration in das Vorhandene könnte doch erst mal das vielfältige Aufeinanderzugehen im Offenen ein Ziel sein.

bis So, 15.4, Schwankhallewww.eigenartig-festival.com