Irrfahrt durchs Internet

In „I.th.Ak.A“, der ersten Oper des Australiers Samuel Penderbayne, trifft ein weiblicher Odysseus im Darknet auf ihre Ängste und Traumata. Paul-Georg Dittrich bringt die Cross-Grenre-Oper in der Hamburger Opera stabile im Dark-Wave-Comicstil auf die Bühne

Erschreckende Welt hinter den Links: Juli trifft auf Avatare ihrer Angst-Auswüchse Foto: Jörg Landsberg

Von Jens Fischer

Das Leben als Gefängnis wahrzunehmen, kann zu todessüchtiger Depression führen. Oder animieren, unbeirrbar Ausbrüche zu realisieren. Zwischen diesen Polen pendelt Samuel Penderbaynes „I.th.Ak.A.“, die jüngste Uraufführung der Hamburger Staatsoper, dargeboten in deren kleiner Bühne Opera stabile. Ideal besetzt ist die Position des Regisseurs: Die Inszenierungen des auch am Theater Bremen und Bremerhaven auffällig gewordenen Paul-Georg Dittrich handeln mit bildstarker Wucht zumeist vom Anderssein-Wollen und verzweifelndem Revoltieren in einem totalitären System.

Das nun in Hamburg irgendwo und überall verortet ist: eben als Metapher dieses diffusen Lebensgefühls des Eingesperrtseins. Wir sitzen alle in einem, in diesem Boot, meint Dittrich. Das Ausstatterinnen-Duo Jana Findeklee und Joki Tewes hat es gebaut. Und so nimmt das Publikum auf nackten Stahlträgern in einem rostigen Schiffsbauch Platz, der an drei Seiten von Fadenvorhängen begrenzt ist, über die Videos flirren: Bilder aus der Kunstgeschichte, der Aufführung und der Fantasie der Protagonistin. Zwischen den Zuschauern beschreiten die Darsteller kantig vorprogrammierte Wege wie einst der gefräßige Puck im „Pac-Man“-Spiel.

Genauso gierig ist auch Heldin Juli (Lini Gong) – eine eingedeutschte Kosekurzform des englischen Ulysses. Also Frau Odysseus. Wie der antike Superheld will sie raus aus dem Alltagstrott. Hatten ihn das eintönige Herrscherleben und die Szenen einer Ehe mit Penelope von der Insel Ithaka getrieben, ist es bei ihr der trostlose Bürojob in einem „Sanatorium“ für politisch aufmüpfige Geister.

Alles hinter sich lassen und in einem selbst produzierten Fantasy-Hollywood-Blockbuster leben – mit diesen Gelüsten zog Odysseus in den Trojanischen Krieg und traute sich dann zehn Jahre lang nicht mehr heim, lauschte lieber sphärischen Gesängen, tötete Monster, kontaktete die Unterwelt, gab sich Drogenräuschen hin und exotischen Frauen.

Homer hat das als Irrfahrt übers Mittelmeer beschrieben, heute wird es als eine träumerische Irrwanderung durch Odysseus’Ängste, Sehnsüchte und Kriegstraumatisierungen gelesen. So psychoanalytisch schickt auch Librettist Helmut Krausser seine Juli auf Reisen. Zu Cyborgs und Avataren als Auswüchsen ihrer Furcht und Hoffnung. Wie häufig bei Dittrich sind sie im Dark-Wave-Comic-Stil kostümiert.

Juli, unschuldsweiß bekleidet und blond perückt, sucht ihre Abenteuer nicht in mediterranen Landschaften, sondern surft in die Untiefen des Webs. Neugierig und überraschungsgeil, was sich hinter all den Links verbirgt und dann im Theater ihres Bewusstseinsstromes vorgespielt wird. Sie will darin „verloren gehen“ – und sich finden, ist verträumtes Mädchen – und aggressive Empowerment-Frau. Daher sind die Gesangslinien auf dissonanten Intervallen aufgebaut, aufgeregte Harmonien begleiten das Stichwort Ithaka.

Für Juli ist es eine Art Chatroom, wo sich Freigeister zum Krieg „gegen das System“ versammeln. Ein Wunschtraum von Heimat und Freiheit. Wie dort hingelangen? In Erinnerung an Odysseus, der sich als „Niemand“ dem Menschenfleisch-Gourmet Polyphem vorstellte und so ungefressen aus dessen Höhle fliehen konnte, hackt Juli sich als Userin „Niemand“ mit dem Password „Keines“ aus dem Intranet ihres Jobs ins Internet, trifft Cyber-Guide Cyclops, verlangt Intimsphäre und poltert: „Verpiss dich!“ Die Antwort: „Befehl unbekannt.“

Überhaupt schwer von Begriff, dieser Ratgeber. Sie will Spaß und er sagt: „Spaß nicht verstanden. Geeigneteres Synonym bitte.“ Juli: „Lust. Triebabbau. Sinnlichkeit.“ Das wird verstanden und auf die Homepage von Sexgöttin Circe weitergeleitet: „Erlaubt – doch nicht empfohlen.“ Zur Warnung haut der E-Gitarrist schon mal einen verzerrten Gitarrenakkord heraus, während zur kulturell wertvollen Illustration einige Aphrodite-Büsten projiziert werden.

„Weil von der Welt doch jeder einmal gehen muss, will er vorher kommen, kommen, kommen, viel, viel öfter kommen, als am Ende gehn“, mit diesem schemenhaft funky groovenden Song betritt Circe die Bühne und fragt: „Was willst du, Mädchen? Sex, Drogen, Käsekuchen? Den Weltfrieden? Legenden?“ Mit anderen Worten: Der Abend ist auch ein ironisch gebrochen lustiger.

Penderbaynes assoziative Klangzuckungen fordern den Zuhörer viel aktiver, als es klassische Klangfluss-Komponisten tun

Durch ein Tor – den Browser zum Anonymisierungsnetzwerk Tor – geht’s schließlich ins Darknet. Dort muss Juli lernen, dass die virtuelle keine kapitalismusfreie Welt ist. Wer was erleben will, muss zahlen. Und wer kein Geld hat, muss sich selbst verkaufen. „Das ist geschmacklos, aber die Wahrheit.“ Also zieht Juli sich aus und posiert. Mit einem Schrillschrei kommentiert das Musikersextett und addiert einen Beat – auf dem aber nicht irgendwie beglückenden Erlebnissen entgegenmarschiert werden kann, da er in lässiger Jazzhaltung gleich wieder ausgeblendet wird.

Stattdessen zuckt Stroboskoplicht und spielt mit Bühnennebel. Zu einer Metal-Klanggeste erscheint ein Kapitän. Charon ist es, der Menschen über den Styx ins Totenreich schippert. Während ein Sirenenchor die Freiheit preist, die nur im Jenseits möglich sei. Keine Hoffnung, nirgends. Juli lässt sich betören. Heult, hechelt und verstummt. Die poetische Szene gilt einer prosaischen Tat. Das Nachhausekommen, Ithaka, ist ein Zu-Tode-Kommen: vermutlich Suizid.

Im innermusikalischen Monolog erzählen klassische Opern bereits die ganze Geschichte. Penderbaynes Komposition ist dagegen eine eigensinnige Dienerin des Textes, indem sie Gefühlslagen akzentuiert, partiell Stimmungen andeutet und vor allem Brüche betont. Jeweils nur sekundenkurz. Nie wird eine Idee mal ausformuliert oder im Fluss der Narration weiterentwickelt, sondern eine Behauptung sofort von der nächsten abgelöst. Mal wird mit mathematisch spröden Splitterklängen Neuer Musik argumentiert, mal mit Fragmenten süffiger Klassik oder Pop-, Rock- und Elektro-Fitzeln. „Cross-Genre“ nennt der australische Notensetzer seine sehr offene Collagetechnik.

Die Assoziationsmöglichkeiten dieser Klangzuckungen fordern den Zuhörer viel aktiver, als es klassische Klangfluss-Komponisten tun. Ermöglichen aber auch, Szenen höchst komplex auf-, Emotionen in ihrer Widersprüchlichkeit anzureißen. Ein faszinierendes Raum-, Musik-, Theatererlebnis.

So, 15. 4., 17 Uhr, Opera stabile, Hamburg. Weitere Termine: Mi, 18. 4., Do, 19. 4., 20 Uhr