Nobel ist anders

Korruption. Machtmissbrauch. Die Skandale um die Schwedische Akademie zeigen auf eine schwelende Legitimationskrise des Literaturnobelpreises

Ist das Honoratiorenmodell der Schwedischen Akademie noch zeitgemäß? Festbankett zur Nobelpreisverleihung in Stockholm Foto: Matt Dunham/ap

Von Dirk Knipphals

Als Erstes werden um die 700 Briefe in die Welt hinausgeschickt. Journalisten, Professoren, Intellektuelle und sonstige Experten werden um einen Namen gebeten, um einen Vorschlag, wer der nächste Nobelpreisträger, die nächste Nobelpreisträgerin für Literatur sein soll.

Die Antworten werden vom sogenannten Nobelkomitee gesichtet. Es besteht aus sechs der insgesamt 18 Mitglieder der Schwedischen Akademie, alles Schweden, alle auf Lebenszeit ernannt. In Abstimmung mit allen Mitgliedern der Akademie erstellt das Komitee eine Liste von 20 Kandidaten. Dann verkürzt das Komitee die Liste auf fünf Namen. Das ist die Shortlist. Alle Mitglieder der Akademie haben nun etwa drei Monate Zeit, um sich mit den Werken der fünf Shortlist-Kandidaten vertraut zu machen. Dann wird abgestimmt.

Korruption. Machtmissbrauch. Das sind die Vorwürfe, die schnell aufkommen, wenn so wenige Menschen hinter verschlossenen Türen Entscheidungen treffen, die viele Menschen interessieren. Wenn die Vorwürfe auch noch zuzutreffen scheinen, hat man ein Problem. Erst recht, wenn es dann noch nicht einmal gelingt, angemessen zu reagieren.

Bei der Schwedischen Akademie ist das derzeit der Fall. Der Ehemann eines Mitglieds, der Lyrikerin Katarina Frostenson, soll aus Nobelpreismitteln Geld bekommen haben. Außerdem sollen Frostenson und weitere Mitglieder auch noch sexuelle Übergriffe dieses Mannes im Umfeld der Akademie gedeckt haben. Das alles sieht ziemlich eindeutig nach „Eine Hand wäscht die andere“ aus, was natürlich alles andere als nobel wirkt. Darüber hat sich die Akademie so sehr zerstritten, dass zuletzt ihre Sprecherin Sara Danius das Handtuch warf; wie es weitergeht, weiß man nicht.

Immerhin hat die Affäre den Vorteil, dass nun einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wird, wie in Stockholm Entscheidungen getroffen werden. Hinter den aktuellen Vorwürfen steckt nämlich auch eine latente Legitimationskrise der Akademie, die bei Skandalen auflodert. Die Fragen, die man sich stellen könnte, lauten: Ist das Honoratiorenmodell der Schwedischen Akademie eigentlich noch zeitgemäß? Und gäbe es Alternativen?

Die Gründer der sehr viel jüngeren deutschen Buchpreise taten jedenfalls gut daran, in ihrer Organisationsstruktur keineswegs dem schwedischen Modell zu folgen. Auch beim Deutschen Buchpreis, der jeden Herbst in Frankfurt verliehen wird, gibt es eine sogenannte Akademie aus verdienten Mitgliedern des deutschen Kultur-Establishments, der Direktor der Frankfurter Buchmesse gehört dazu, der Präsident des Goethe-In­stituts, die Kulturstaatsministerin, elf Köpfe sind es insgesamt. Aber sie bestimmen eben keineswegs den Preisträger, sondern ernennen die jährlich wechselnde siebenköpfige Jury, der allein die Preisfindung zukommt.

Beim Preis der Leipziger Buchmesse im Frühjahr ist die Konstruktion wieder anders. Hier ernennt letztlich der Chef der Leipziger Buchmesse auf drei Jahre eine Jury-Vorsitzende, zuletzt war das die Kritikerin Kristina Maidt-Zinke, die wiederum ihre turnusmäßig auch nach drei Jahren ausscheidenden Jury-Kollegen bestimmt.

Auch diese Modelle sind keineswegs hundertprozentig mauschelfrei, aber allein schon durch die zeitliche Begrenzung sind sich über die Jahre verfestigende Mauschel-Strukturen einigermaßen ausgeschlossen. Allerdings gibt es auch einen Nachteil: Langfristig können so die Preise kaum kontinuierliche Trends oder Richtungen setzen. Zumal beim Frankfurter Buchpreis mit seinen jährlich wechselnden Jurys gibt es bei den Preisen ein ziemliches Zickzackspiel zwischen künstlerischen und populären Ansprüchen. Das Ganze hat etwas von einem Glücksspiel. Außerdem könnte es für das kleine Land Schweden, mit seinen gerade einmal zehn Millionen Einwohnern, auch eine Herausforderung sein, jedes Jahr wieder eine neue kompetente Jury zusammenzustellen.

Aber müssen es überhaupt unbedingt Schweden sein? Der Schriftsteller Ilija Trojanow hat soeben im Deutschlandfunk angeregt, dass der Nobelpreis, der schließlich Weltliteratur auszeichnet, doch bitte schön von einer internationalen Jury vergeben werden möge.

Das klingt erst mal gut, wirft aber Fragen auf. Wer soll die Jury bestimmen? Am besten gleich die UNO? Und nach welchen Maßstäben soll sie zusammengesetzt sein? Pro Kontinent zwei Sitze? Pro eine Million Buchverkäufe eine Stimme? Demokratietheoretisch wasserdicht wäre das Verfahren sowieso erst, wenn sich Mehrheitsmeinungen in öffentlichen Debatten bilden und Minderheitsmeinungen in Oppositionsstrukturen organisieren könnten. Kurz, wenn man es wirklich ernst meint mit demokratischer Legitimierung, hätte man einen literaturpolitischen Dauerwahlkampf.

Das alles sieht ziemlich eindeutig nach „Eine Hand wäscht die andere“ aus

Abgesehen davon, ob das alles praktisch machbar ist, und auch abgesehen von dem Problem, dass man ja kaum in Schweden einmarschieren kann, um sie dazu zu bringen, Nichtschweden mitbestimmen zu lassen, stellt sich die Frage, ob eine so komplizierte Entscheidungsfindung überhaupt wünschenswert ist (außer für Menschen, die in einem dann zwangsläufig aufgeblähten Apparat auf Posten hoffen). So ein Aufwand – für einen Titel, den die Verlage dann auf den Buchcovern der Preisträger verkünden können!?

Vielleicht wäre ein pragmatischer Umgang mit dem Nobelpreis doch sinnvoller. Interessant ist ja sowieso, dass die Vorwürfe rund um die Schwedische Akademie erst in dem Moment breiter bekannt werden, in dem so viele Akademie-Mitglieder ihren Sitz nicht mehr ausüben (zurücktreten können sie nach der Satzung nicht), dass damit die Entscheidungsfähigkeit des Gremiums gefährdet ist. Genau das und – neben dem monarchistischen Glanz mit Festbankett und traditionellem Dresscode – ausschließlich das scheint man aus Stockholm zu erwarten: einen Preisträger. Im Grunde egal, wie die Entscheidung zustande kam.

Wenn man sich das Procedere der Entscheidungsfindung dagegen vor Augen hält, kann man drei Dinge tun. Erstens einfach mal staunen darüber, dass es ausgerechnet dieser schwedischen Institution, besetzt mit 18 fehlbaren Menschen, gelungen ist, so viel symbolisches Kapital anzuhäufen und über die vielen Jahre auch zu behalten.

Zweitens die Entscheidungen aber nicht für vom Himmel gefallene Anerkennungsgeschenke halten, sondern für interessante Anknüpfungspunkte, nicht mehr, nicht weniger. Es lassen sich an ihnen Grundsatzdebatten führen, was Literatur ist, wie bei der Entscheidung für Bob Dylan. Manchmal kann man die Entscheidungen auch okay und sonst nicht weiter interessant finden wie 2017 bei Kazuo Ishiguro. Oder man kann über sie den Kopf schütteln wie damals bei Dario Fo. Man wird die Entscheidung aus Stockholm also nicht für das Maß aller Dinge halten.

Und drittens muss man, wie die Sache nun mal steht, allerdings wohl dennoch hoffen, dass es der Schwedischen Akademie gelingt, sich halbwegs zu reformieren. Schließlich ist, realistisch gesehen, der Nobelpreis die einzige Gelegenheit, bei der die Literatur überhaupt eine Chance hat, weltweit einmal auf den Titelseiten und in den Hauptnachrichtensendungen zu landen. Man kann sich, auch wenn man es bedauert, eine solche Institution, die das hinkriegt, nicht einfach neu schnitzen. Sitze auf Lebenszeit wie bei so’nem Kardinalskollegium sind weltlichen Institutionen dennoch schlicht nicht angemessen.