Sich selbst sehen sehen

Das Jüdische Museum hat einen temporären Bau im Museumsgarten errichten lassen, in dem James Turrells Werk „Aural“ vorerst bis Ende September 2019 Platz finden wird

13.000 LED-Lichter in Turrells Installation lassen den Sehnerv der Betrachterin auf Hochtouren arbeitenFoto: ­Jüdisches Museum Berlin

Von Lorina Speder

Sitzt man im sogenannten Betrachterraum von James Turrells imposantem Werk „Aural“, blickt man durch ein quadratisches Tor in eine erleuchtete Welt. Die Licht-Raum-Arbeit aus der „Ganzfeld“ Reihe des renommierten Künstlers ist ein wohnzimmergroßer, betretbarer Raum, der meistens in einem fluoreszierenden Blau scheint. Die Besucher darin werden zu Schatten ihrer selbst, die in die Richtung der Hauptwand am Ende des lang gezogenen Lichttunnels schauen. Denn nur diese Wand strahlt manchmal anders als das allgegenwärtige Blau in Weiß oder sogar Giftgrün.

Turrells Genius zeigt sich genau in der Balance, die Gefühle der Besucher mittels Licht, Raum und Zeit zu steuern. Etwa alle 13 Minuten wechseln die 13.000 LED Lichter die Atmosphäre im Kunstwerk. Das Werk ändert fließend seine Farben und lässt die Konturen der Wandlinien im seichten Nebel verschwinden. Der 1943 in Los Angeles geborene Künstler gilt als prominentester zeitgenössischer Vertreter in der Arbeit mit natürlichem und künstlichem Licht. 2004 wurde „Aural“ bereits in Valencia gezeigt, doch damals war der Raum ausschließlich in blaue Farben getaucht. Für Berlin verfeinerte Turrell sein Werk um neue Farben und Effekte.

Für die Schenkung des Sammlerehepaars Dieter und Si Rosenkranz ließ das Jüdische Museum einen temporären Bau im Museumsgarten errichten, in dem „Aural“ vorerst bis Ende September 2019 Platz finden wird.

Wenn man „Aural“ durch das Quadrat in der Wand betritt, sucht man sofort nach Anhaltspunkten. Weitere Personen im Raum, deren Anzahl durch Zeitfenstertickets gering bleibt, geben dem Auge eine Orientierung. Denn „Aural“ an sich bietet visuell wenig Halt. Durch die umhüllende Wirkung der Farbgebung zweifelt man nach einer Weile am eigenen Sehvermögen. Turrell verändert unsere Wahrnehmung der Wände oder die Blautöne so diskret, dass man seine Steuerung nicht mitbekommt. Man verliert sich im Licht des leeren Raums.

Ohne Fokus auf ein Objekt wirkt „Aural“ wie ein schwereloser Zwischenzustand in einer parallelen Welt, die entmaterialisiert nur durch Licht erfahrbar ist. „Man sieht sich selbst sehen“, beschreibt Turrell den Effekt seiner Lichtinstallation. Das innere Auge wird durch Stroboskoplicht und aufflackernde rote Lichtblitze herausgefordert. Die extreme Helligkeit und Konzentration des Auges lassen den Sehnerv auf Hochtouren arbeiten – bei der Autorin setzte, erst zehn Minuten nachdem sie den Raum verließ, eine fühlbare Entspannung des Sehorgans ein, die von bewegten Schatten im inneren Auge geprägt war.

Ob das Licht in „Aural“ Erhellung, reizübersättigend oder eine himmlische Erfahrung ist – eine Kontextualisierung bleibt bei der Präsentation des Werks in einem kulturhistorischen Ort wie dem Jüdischen Museum nicht aus. Das Licht spielt im Judentum eine wichtige Rolle. Ähnlich wie in der Schöpfungsgeschichte wurde es im Mittelalter in der Schriftsammlung der Kabbala namens Zohar als Verkörperung der Transzendenz beschrieben. In jeder Synagoge kann man ein „Ner Tamid“, ein Ewiges Licht, über dem Thoraschrein finden. Licht galt dem Wüstenvolk als portables Heiligtum, das die Gegenwart Gottes anzeigte.

Nach Ansicht der Quäker wohnt Gottes Licht in jedem Menschen

Auch wenn Turrell seine Werke von Interpretation befreien will, kann man davon ausgehen, dass seine Erziehung in der Tradition der Quäker schon in seiner Kindheit eine Faszination für das Medium Licht auslöste. Nach Ansicht der religiösen Gemeinschaft „wohnt Gottes Licht in jedem Menschen“. Eine direkte Verbindung von Licht und Kirche baute der Künstler zudem in einer weiteren Berliner Installation 2015 auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte auf. Die strahlenden Farben Turrells befinden sich dort in der Friedhofskapelle, der Altar bildet den glänzenden Fokus.

Auch wenn man Turrells Werke nicht als übernatürliche Erfahrung erlebt, bleibt das Medium Licht faszinierend. Es formt Oberflächen und bestimmt das Leben auf unserem Planeten. In der Schöpfungsgeschichte schuf Gott das Licht drei Tage vor Sonne, Mond und Sternen – das transzendente Licht bezieht sich also auf das Innere.

Vielleicht kann man sagen, dass das Licht in Turrells Arbeiten unsere irdische Wahrheit transportiert. Auch wenn der Raum synthetisch und spacig aussieht, können wir durch die intensive Helligkeit vielleicht zu uns selbst finden. Sei es im physikalischen Sinne, in welchem unser Auge durch die großen Mengen von absorbiertem Licht sein Potenzial offenbart, oder in einer individuellen Selbsterfahrung.