Ex-Polizeidirektor über Fehler bei G20: „Das Gesamtklima war früh belastet“

Udo Behrendes war im G20-Sonderausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft als Experte geladen. Er sieht Fehler von Polizei und Politik.

Polizisten mit Helm stehen vor schreiender Demonstrantin

Standen sich unversöhnlich gegenüber: Polizisten und Demonstranten bei G20 Foto: Miguel Ferraz

taz: Herr Behrendes, Hamburgs damaliger Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) hatte den G20-Gipfel in Hamburg im vergangenen Juli trotz der angekündigten internationalen Großproteste als ein Polit-Event angekündigt, das die Polizei im Griff habe und dem alljährlichen Hafengeburtstag gleiche. Warum ist das aus Ihrer Sicht schief gelaufen?

Udo Behrendes: Diese Zielbeschreibung war von Anfang an utopisch. Die Sicherheit einer großen Anzahl hochgefährdeter Politiker und die störungsfreie Abwicklung zahlreicher Veranstaltungen und Fahrbewegungen zu gewährleisten, parallel dazu „versammlungsfreundlich“ facettenreiche Proteste zu ermöglichen und dies alles bei geringer Beeinträchtigung der Gesamtbevölkerung umzusetzen, kann mitten in einer Großstadt wie Hamburg natürlich nicht vergleichbar reibungslos funktionieren wie ein großes lokales Fest.

Bei wem sehen Sie die Verantwortung für die Geschehnisse während des Gipfels?

Für die massiven Ausschreitungen, die es dann gegeben hat, sind in allererster Linie diejenigen verantwortlich, die Steine geworfen, Autos angezündet und Läden geplündert haben. Demonstrationsveranstalter und Polizei müssen sich allerdings selbstkritisch fragen, ob sie ihre jeweiligen Einflussmöglichkeiten für die Entwicklung beziehungsweise für die Unterstützung einer friedlichen Protestkultur immer und überall verantwortungsvoll wahrgenommen haben.

Die Polizei war nach der sogenannten Hamburger Linie vorgegangen, die dem Prinzip Deeskalation durch Stärke folgt. Entspricht diese Strategie dem vom Bundesverfassungsgericht geforderten „versammlungsfreundlichen Verhalten“ der Behörden und dem allgemeinen Verständnis von Protest-Policing?

In Einzelfällen, wenn man es etwa mit einer homogenen, gewaltaffinen Gruppe zu tun hat, kann es durchaus Sinn ergeben, durch das demonstrative Zeigen von hoch ausgerüsteten Polizisten und entsprechendem technischem Equipment zu signalisieren, dass militante Aktionen keine Chance haben. Als generelle Linie, insbesondere beim Umgang mit heterogenen Protestbündnissen, halte ich dieses Prinzip für wenig sachgerecht. Eine solche Einsatzphilosophie würde letztlich eine Renaissance des Protest-Policings der 1950er- und 1960er-Jahre darstellen, was seinerseits auf Strategien aus den Zeiten der Weimarer Republik aufbaute. Diese konfrontativ ausgerichtete Grundphilosophie herrschte bundesweit bis Mitte der 60er vor. Der damalige Hamburger Innensenator Heinz Ruhnau und sein Polizeipräsident Jürgen Frenzel galten zu dieser Zeit übrigens als Polizeireformer und kreierten damals als Alternative zu den traditionellen, starren Einsatzkonzeptionen das Prinzip der flexiblen Reaktion.

Das Bundesverfassungsgericht hat 1985 in seinem legendären Brokdorf-Beschluss ausgeführt, dass der Staat auch Demonstrationen zugunsten des Gros zuzulassen habe, wenn von einigen Teilnehmern Gewalt ausgehen könnte. War die zweitägige Demonstrationsverbotszone von 38 Quadratkilometern während des G20-Gipfels in Hamburg per Allgemeinverfügung aus polizeilicher Sicht trotzdem notwendig und sinnvoll?

Kern des Brokdorf-Beschlusses ist das Differenzierungsgebot: Die Versammlungsbehörde beziehungsweise die Polizei darf friedliche Demonstranten nicht generell in Mithaftung für das Verhalten militanter Teilgruppierungen nehmen. Sie muss stattdessen versuchen, möglichst in Abstimmung mit der Versammlungsleitung, gezielt gegen diese Gewalttäter vorzugehen. Dies ist natürlich in einer realen Situation nie klinisch sauber möglich, da es bei Großdemonstrationen eben nicht nur Gewalttätige und Friedliche gibt, sondern auch viele Teilnehmer, die eher indifferent sind und sich je nach Situation mit dem einen oder dem anderen Lager solidarisieren. Mit dem großflächigen Demoverbot hatte man jedoch bereits im Vorfeld Fakten geschaffen, die natürlich gerade von den friedlichen Demonstranten nicht als versammlungsfreundlich wahrgenommen wurden. Das Gesamtklima war daher bereits früh belastet – genau das kommt übrigens der Strategie von Militanten sehr entgegen.

Jahrgang 1955, war bis 2013 Leitender Polizeidirektor in Köln, gilt als Polizeireformer. Er gehörte Mitte der 1990er zu den Gründern des Bonner Forum BürgerInnen und Polizei, in dem sich Polizeiangehörige und AktivistInnen austauschen

Die Automomen-Demonstration „Welcome to Hell“ am Vorabend des G20-Gipfels ist wegen Vermummung einiger Teilnehmer gleich zu Beginn von der Polizei zerschlagen worden, was zu schweren Ausschreitungen geführt hat. Sie galt als Gradmesser für den weiteren Verlauf. Ist die Polizei nach dem Legalitätsprinzip verpflichtet, schon im Vorfeld konsequent einzuschreiten, wenn einige Hundert von rund 12.000 Demonstranten mit Sonnenbrillen, Baseball-Caps und Halstüchern nicht identifizierbar sind?

Mit der Einführung des Vermummungsverbots in den 1980er-Jahren wollte der Gesetzgeber keinen Dresscode für Demonstranten festlegen, sondern der Polizei eine Handhabe geben, um frühzeitig gegen potenziell Militante einschreiten zu können. Die Vorschrift kann für die Polizei allerdings in Umkehrung ihrer Zielrichtung zu einer Gewaltfalle werden: Wenn man zu einem Zeitpunkt, zu dem es noch keine militanten Aktionen gibt, gegen Vermummte vorgeht, tritt man eventuell genau die Gewalttätigkeiten los, die die Vorschrift ja eigentlich verhindern will. Man liefert damit den Militanten den erhofften Stoff für ihre Erzählung, von der Polizei angegriffen worden zu sein und sich nur gegen unangemessene staatliche Maßnahmen zu wehren.

Was für Erfahrungen haben Sie mit der Vermummung gemacht?

Ein entsprechendes Outfit kann natürlich in manchen Fällen die konkrete Vorbereitung für militante Aktionen sein, in anderen Fällen hat es für die Protagonisten aber eher eine habituelle Bedeutung und letztlich kann es eben auch als gezielte Provokation dienen, um die Polizei in die beschriebene Gewaltfalle zu locken. Ich habe mal bei einer Großdemonstration mit über 100.000 Teilnehmern in Bonn eine Teilgruppe von etwa 3.500 Autonomen mit 30 Polizisten in Alltagsuniform begleitet, ohne dass es zu einer einzigen Gewalttätigkeit gekommen ist. Dieses Setting hatten wir mit Vertretern der autonomen Szene mit Hilfe von Vermittlern der Hauptkundgebung in zähen Verhandlungen vereinbart.

Kann das nicht eine Blaupause sein?

Natürlich kann dies keine Blaupause für alle Demos mit solchen Gruppierungen sein – das Beispiel zeigt aber, was alles bei einer stabilen Dialog- und Kooperationsstruktur möglich ist. Letztlich zwingt auch die Rechtslage nicht etwa zu einem reflexhaften Handeln, denn das übergreifende Ziel des Vermummungsverbots ist ja gerade die Verhinderung von Gewalt. Die Versammlungsgesetze der Hamburger Nachbarländer Niedersachsen und Schleswig-Holstein tragen diesem Gedanken übrigens ausdrücklich Rechnung, aber auch das für Hamburg geltende Bundesversammlungsgesetz ermöglicht durchaus flexibles Handeln.

Die Polizei hat die G20-Protestcamps schon vorab verboten, da diese Sammelbecken militanter Gipfelgegner hätten sein können. Sind solche Verbote aus polizeilicher Sicht sinnvoll?

Man kann dem entgegenhalten, dass man dann eben auch weiß, wo sich Militante aufhalten und sich darauf einstellen. Problematischer ist es, wenn Gewalttäter überraschend auftreten, so wie in Altona. Hinzu kommt, dass die restriktive Linie gegen Camps nicht nur Militante traf, sondern auch viele friedliche Demonstranten und damit die Atmosphäre rund um die Proteste gegen den Gipfel negativ beeinflusst hat. Gerade heterogene Camps können ja dazu führen, dass Militante eben nicht die Oberhand innerhalb der gesamten Protestbewegung bekommen und es gegen ihre geplanten Aktionen auch internen Widerstand anderer Gruppierungen gibt. Wenn sich alle Demonstranten aber mit den Militanten in einen Topf geworfen fühlen, entstehen eher Solidarisierungen mit diesen Problemgruppen und eine insgesamt ablehnende bis feindselige Haltung gegenüber der Polizei.

Ein Sonderausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft beschäftigt sich derzeit mit der Aufarbeitung der Vorkommnisse beim G20-Gipfel. Was sollte man Ihrer Meinung nach zukunftsgerichtet tun?

Der G20-Gipfel wird für Hamburg ein singuläres Ereignis bleiben. Insoweit sollte man alles versuchen, um nun wieder die alltägliche Protestkultur positiv weiterzuentwickeln. Versammlungsbehörde, Polizei und Politik sollten darüber in einen anlassunabhängigen Dialog mit Protagonisten der Protestszene treten, am besten moderiert durch von beiden Seiten anerkannte Vertreter der Zivilgesellschaft. Auch für einen solchen Dialog­ansatz gibt es übrigens ein gutes Hamburger Beispiel aus den 1960er Jahren: Innensenator Heinz Ruhnau hatte damals aufgrund der zunehmenden Demonstrationen der Studentenbewegung eine Planungsgruppe ins Leben gerufen, also einen Austausch zwischen polizeilichen Führungskräften und Akteuren der Zivilgesellschaft institutionalisiert, um gemeinsam nach Wegen zum Umgang mit brisanten Demonstrationen zu suchen.

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