Steinzeit und Revolution

Blick in die Umbruchzeit zwischen den Kriegen mit dem anarchistisch gestimmten Kunsthistoriker Carl Einstein: Die Schau „Neolithische Kindheit. Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930“ im Haus der Kulturen der Welt

Ein „neolithischer“ Blick in der Schau: Klees „(Metamorphosen:) der Zusammenbruch der biblischen Schlange“ Foto: Zentrum Paul Klee Bern

Von Tom Mustroph

Ein Offizier der Milizen teilt seine Erinnerungen auf der Terrasse eines Cafés in Perpignan. Es ist Karl Einstein, Neffe des Gelehrten, der sich für die Verteidigung der republikanischen Freiheiten engagiert hat.“ So ist auf einer vergilbten Zeitungsseite das Foto eines bebrillten Mannes unterschrieben, der vor sich ein Glas zu stehen hat, das vermutlich mit einem der leckeren schweren Weine der Gegend gefüllt ist. Die Bild­unterschrift stellt eine halbe Fake News dar. Denn Einstein, der selbst meist als „Carl“ und nicht als „Karl“ publizierte, ist nicht ein Neffe Albert Einsteins, wie es die der revolutionären Sache zugeneigte Zeitung glauben machen wollte. Der Kunsthistoriker und Schriftsteller, an den die „Neolithische Kindheit“-Schau im Haus der Kulturen der Welt erinnert, war noch nicht mal mit dem weit bekannter gebliebenen Physiker verwandt.

Dass Carl Einstein am Spanischen Bürgerkrieg teilnahm, auf Seiten der Republikaner, in der anarchistischen Colonna Durruti, ist indes belegt. Einstein verfasste sogar einen Nachruf auf Durruti, in dem er das kollektive Moment dieser anarcho-syndikalistischen Truppe hervorhob: „Durruti hatte das vorgeschichtliche Wort ‚ich‘ aus der Grammatik verbannt. In der Kolonne Durruti kennt man nur die kollektive Syntax. Die Kameraden werden die Literaten lehren, die Grammatik im kollektiven Sinn zu erneuern.“

Starke Worte eines markanten Individualisten. Der 1885 geborene Carl Einstein hat einen sehr weiten, verschlungenen wie auch faszinierenden Weg zurückgelegt, bis er in dieser kollektiven Verschmelzung landete. Wenig später setzte er 1940 angesichts der in Frankreich einrückenden Wehrmacht per Suizid seinem Leben ein Ende.

Zurück ließ Einstein ein bemerkenswertes Werk. Noch vor dem Ersten Weltkrieg veröffentlichte er in Franz Pfemferts legendärer Zeitschrift Die Aktion seinen Roman „Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders“. Darin zelebrierte er die Auflösung des denkenden und fühlenden Individuums. 1915 legte er „Negerplastik“ vor. Der Aufsatz mit dem heute hochpro­ble­matisch erscheinenden, damals aber als „normal“ aufgenommenen Titel war eine der frühen Auseinandersetzungen mit der sogenannten „primitiven“ Kunst.

Viele von Einsteins künstlerisch tätigen Zeitgenossen suchten in deren Rezeption sowie der Aufnahme dort erblickter ästhetischer Praktiken einen Ausweg aus der technizistischen Moderne einerseits und dem Korsett des für sich selbst verantwortlich gemachten Individuums anderseits. Einstein selbst hob vor allem die „kubische Raumanschauung“ afrikanischer Plastiken hervor und schlug damit eine Brücke von europäischer Avantgarde mit afrikanischer Kunst.

Die Beschäftigung mit den außereuropäischen indigenen Kulturen verband sich bei Einstein mit einem Interesse an steinzeitlichen Höhlenmalereien. Der Ausstellungstitel „Neolithische Kindheit“ verdankt sich diesem Zusammenhang. Der erste Teil der insgesamt dreiteiligen Ausstellung breitet denn auch die Publikationen der damaligen Zeit zur „primitiven“ Kunst der „Naturvölker“ aus.

Im zweiten Teil der Schau in der großen Halle des Hauses der Kulturen der Welt haben die Kuratoren Tom Holert und Anselm Franke einen zweistöckigen Parcours aus Werken von Künstlern, über die Einstein einst publizierte, installiert. Arbeiten von Georges Braque, Max Ernst und Paul Klee sind etwa zu sehen. Aber auch Werke von Künstlern und Künstlerinnen, die Einstein selbst nicht wahrgenommen hat, die aber nachträglich als prägend für die Zeit erachtet wurden, sind präsent.

Carl Einstein im Jahr 1939 Foto: Paris Match

Erst recht gehen Holert und Franke über Einstein hinaus, indem sie Filme integrieren. Einstein hatte es seinerzeit nicht so mit den bewegten Bildern, erst 1934 arbeitete er zusammen mit Jean Renoir am Drehbuch von dessen Film „Toni“. In den gezeigten Filmbeispielen, Eisensteins Mexiko-Drehs etwa oder den Assemblagen aus gefilmten Ritualen und Industrie­filmen von Joseph Cornell, werden die Prozesse, die Einstein selbst als Entladung der Subjektivität und parallele Aufladung und Erregung der Objektwelt beschrieben hatte, besonders eindrucksvoll deutlich.

Der letzte Teil der Ausstellung setzt dann Einsteins eigenes Engagement in der Colonna Durruti in Beziehung zu antikolonialistischen Initiativen in den frühen 30er Jahren. Dokumente und Manuskripte Einsteins sind im digitalen Carl-Einstein-Archiv der Akademie der Künste zu sehen, das zur Ausstellung freigeschaltet wurde (adk.de/einstein).

Ausstellung und Archiv öffnen die Türen zu einem zu Unrecht vergessenen Intellektuellen und zu dessen Zeit. In der spiegelt sich die unsere, wie sich in Fragmenten aus dem Archiv leicht nachlesen lässt. So notierte Einstein in einem Typoskript über damalige Berliner Kultureliten: „die eitelkeit bis ins greisenalter sich fuer die jungen zu halten“.

Neolithische Kindheit. Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930:Haus der Kulturen der Welt, bis 9. Juli