Shoppinglust und Klassenkampf

Clara aus Bremen macht tagsüber eine Ausbildung zur Friseurin und arbeitet nachts in einem Stripklub an der Bar. Weil sie von 317 Euro im Monat zwar irgendwie überleben kann – aber sonst auch wirklich nichts

Von Jan-Paul Koopmann

Wenn sie 50 Stunden arbeitet, nennt Clara* das „eine ruhige Woche“. Und selbst die hat sie eher selten – in der Regel arbeitet sie noch mal rund zehn Stunden mehr: tags als Auszubildende im Friseursalon, nachts in einem Bremer Stripklub an der Bar.

Seit ein paar Monaten geht das so, weil ihr die Ausbildungsvergütung nicht reicht. Netto bleiben Clara 317 Euro im Monat, dazu ein bisschen Halbwaisenrente. „Man kann davon überleben“, sagt sie.

Ganz einfach war es nicht, die Zweitbeschäftigung unterm Rotlicht bei ihrem Ausbilder durchzukriegen – der führt immerhin einen hochpreisigen Salon mit gutem Ruf im wohlhabenden Bremer Stadtteil Schwachhausen. „Aber ich habe darauf bestanden“, sagt Clara, „die sind ja selbst verantwortlich für meine Situation.“ Immerhin arbeitet sie inzwischen nicht mehr in den Nächten, bevor es morgens in den Salon geht – das war der Kompromiss.

Mit Freizeit war es damit allerdings endgültig vorbei. „Ich habe keine“, sagt Clara – und dass sie trotzdem glücklich ist. Im Moment jedenfalls. Zwischendurch hatte sie den Nachtjob auch mal für eine Weile geschmissen, weil sie es dann doch nicht ausgehalten hat.

Eine Alternative gäbe es schon: Clara könnte auch an ihren ausbildungsfreien Tagen im Friseursalon arbeiten. Da bekäme sie Mindestlohn anstelle der umgerechnet 1,90 Euro pro Stunde. Aber da macht das Selbstwertgefühl nicht mehr mit: „Es ist ja die gleiche Arbeit wie sonst – und plötzlich soll die sieben Euro mehr wert sein?“

Außerdem zahlt der Nachtklub ohnehin noch mal besser: Da bekommt Clara zehn Euro die Stunde – plus Trinkgeld. Und das kann auch schon mal üppig sein. Wenn Gäste die eh schon teuren Getränke für die Tänzerinnen kaufen, runden sie gern mal großzügig auf, weil sie sich in der Rolle gefallen.

Das ist überhaupt so eine Sache. Clara strippt zwar nicht selbst, aber es ist schon was anderes als herkömmliche Gastrojobs, so im kurzem Rock auf High Heels mit dieser Kundschaft umzugehen. Ob die übergriffig werden? Nee, sagt Clara, das sei in den normalen Bars, in denen sie schon als Schülerin gejobbt hat, sogar eher schlimmer.

Was sie nervt sind Männer, die mit ihr an der Theke über die Preise der Tänzerinnen schachern wollen. Das – und die Sorge, dass einer der Männer aus der Bar eines Tages in den Friseursalon spaziert, um seine Ehefrau nach dem Verwöhnprogramm mit Kopfmassage und neuen Strähnchen abzuholen. Beide Arbeitgeber sind im hochpreisigen Segment unterwegs: Beide teuer, beide sauber – Luxus statt Schmuddel.

Clara selbst ist 20 Jahre alt, hat das Abi und ein Jahr soziale Arbeit im Ausland hinter sich. Sie spricht vier Sprachen. Schon die Friseurinnenlehre war ein ungewöhnlicher Schritt. Vielleicht will sie später noch mal studieren, aber: „Ich weiß nicht so richtig, was.“ Und statt dann doch irgendwann irgendwas abzubrechen, hat sie sich erst mal für die Ausbildung entschieden.

Ästhetik interessiert sie eh, vielleicht hängt sie noch Kosmetik dran, vielleicht auch nicht – Hauptsache keine halben Sachen. Außerdem, sagt sie, lerne sie mit ihren Jobs sicher mehr über das Leben als Leute, die mit Mitte/Ende 20 von der Uni kommen und dann merken, was in der Welt so vor sich geht.

Sehr eindeutig ist Clara auch, was ihren Konsum angeht. Auf ihrem Konto geht das Geld vom Ausbilder rauf und die Miete runter, für größere Anschaffungen – „wie mein geliebtes iPhone 8 Plus“ – legt Clara grundsätzlich was zur Seite. Was dann noch übrig bleibt, rauscht so durch: für Dinge, die viele Menschen als Luxusgüter verstehen. Und darum geht es Clara auch: „Ich will nicht nein sagen müssen, wenn meine Freunde zusammen essen gehen“, sagt sie. Und auch nicht vorm Schaufenster stehen und ein schönes Oberteil nicht kaufen können.

Das ist die Frage: Ist es Luxus, in dieser Gesellschaft normal mitmachen zu wollen? Clara spricht auch von Gerechtigkeit. Von Mit-Azubis, die mit ihren 317 Euro klar kommen – weil sie noch bei ihren Eltern wohnen, die für alles aufkommen.

Shoppinglust und soziales Bewusstsein scheinen bei Clara kein Widerspruch zu sein. Auf die Frage, wie lange sie dieses Doppelleben ohne Freizeit noch durchziehen will, sagt sie nur, dass sie sich ja auch bei Ver.di engagiert: „Und wenn wir uns mit den 600 Euro fürs zweite Lehrjahr durchsetzen, dann höre ich an der Bar auf.“

*Name geändert